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[Giftöl Spanien] Giftöl Syndrom Spanien

CBG Redaktion

DER SPIEGEL 11/1987 vom 09.03.1987, Seite 165-175

Das Giftöl machte die Ratten nur fett

Politiker und Wissenschaftler vertuschten die Ursachen einer tödlichen Epidemie in Spanien

Maria Concepcion Navarro Hernandez, 42, starb eines „natürlichen Todes“. Der Autopsie-Bericht spricht von „schwerer doppelseitiger Lungenentzündung und wahrscheinlicher Darmblutung“. Todesursache: „akutes Lungenversagen“.
So wollte es die Regierung in Madrid, so teilte sie es auch dem Parlament auf Wunsch eines Abgeordneten mit. Seine Frage, so fand der Parlamentarier, hatte das spanische Kabinett wohl sehr in Verlegenheit gebracht.
Die Tote paßte nicht ins Bild. Maria Concepcion starb an Gift, angeblich an den tödlichen Substanzen, die in gepanschtem Öl sein sollen. Sie wurde seit langem wegen einer Krankheit behandelt, die in Spanien seit 1981 das Toxische Öl-Syndrom (TOS) heißt. Doch Frau Navarro Hernandez, Rechtsanwältin wie ihr Mann, hat nie das gepanschte Öl zu sich genommen.
Der Mann, Mitglied in einer angesehenen großen Kanzlei, wurde mehrfach auf Betreiben der Regierung, so sagt er, unter Druck gesetzt: Er sollte endlich zugeben, daß seine Frau auch das gefährliche Öl verzehrt hatte.
Jose Merino Ruiz wollte nicht. So wurde die Leiche seiner Frau – gegen seinen Willen – obduziert, und das Ergebnis brachte die These der Regierung wieder in Übereinstimmung mit der Logik: Da Maria Concepcion nun mal kein giftiges Öl gegessen haben wollte, war sie eben nicht am Toxischen Öl-Syndrom gestorben. Die Autopsie erbrachte nichts.
Der Tod der Rechtsanwältin ist so rätselhaft wie der Tod von fünfhundert oder achthundert oder tausend Spaniern, die wie Maria Concepcion gelitten haben und genauso gestorben sind. Es werden noch mehr sterben, vor vierzehn Tagen waren es ein neunzehnjähriges Mädchen und ein Junge. Etwa 25000 sind vergiftet. Heilungschancen sind nicht erkennbar – bislang ist nicht einmal sicher, was die Epidemie ausgelöst hat.
Es war das Öl, sagt der Staatsanwalt: für industrielle Nutzung importiertes, denaturiertes Rapsöl, für den Verzehr wieder aufbereitet und vermischt mit allerlei anderen Fetten. Gut drei Dutzend Panscher und Händler waren zum Teil jahrelang in Haft. Der Prozeß wegen Totschlags, Körperverletzung, Verbrechens gegen die öffentliche Gesundheit und Urkundenfälschung soll am 30. März beginnen.
Er kann nur, ganz gleich wie die Urteile ausfallen, mit einer schweren Blamage der spanischen Regierung enden: Was auch immer die Epidemie auslöste – es gibt bislang nicht einen einzigen überzeugenden Beweis, daß es gepanschtes Öl war.
Als sie noch in der Opposition waren, versprachen die Sozialisten des Felipe
Gonzalez, sie würden mit allen Mitteln zu klären versuchen, wer und was die Spanier vergiftete. Seit sie an der Macht sind, tun Gonzalez‚‘ Leute das gleiche, was ihre Vorgänger taten: Sie suchen mit allen Mitteln die Aufklärung des Falles zu verhindern.
Wer nicht an die These vom giftigen Öl glaubte und nach anderen denkbaren Ursachen der Epidemie forschte, wurde nicht ernstgenommen. Wer anderer Meinung war, verlor seinen Job. Anwälte, Ärzte, Kranke, Journalisten bekamen den Druck der Staatsräson zu spüren. Untersuchungen, die nicht der einen Wahrheit entsprachen, wurden nicht zur Kenntnis genommen oder verschwanden.
Wann die neue unerklärliche Krankheit ihre ersten Opfer fand, ist nicht genau feststellbar. Heute wird der 1. Mai 1981 als wichtiges Datum in der Geschichte dieser Epidemie genannt.
An diesem Tag starb der achtjährige Jaime Vaquero in einer Ambulanz, die ihn von der Satellitenstadt Torrejon nach Madrid bringen sollte. Am gleichen Vormittag wurden vier seiner Geschwister in das Madrider Hospital del Rey gebracht. Vorläufige Diagnose: atypische Lungenentzündung. Der Direktor der Klinik, Antonio Muro, alarmierte das Gesundheitsministerium. Er befürchtete den Ausbruch einer Epidemie.
In den nächsten Wochen füllten sich die Krankenhäuser mit Patienten aus den Vororten von Madrid und aus den angrenzenden Gebieten. Alle zeigten die gleichen Symptome: Fieber, Kopfschmerzen, Hautausschlag, Muskel- und Gelenkschmerzen, Schlaflosigkeit, Haarausfall, Lungenentzündung.
Am 6. Mai bildete das Gesundheitsministerium in Madrid Arbeitsgruppen, die der Krankheit auf die Spur kommen sollten. Ärzte und Wissenschaftler suchten nach Viren oder Bakterien, die über die Atemwege in den Körper der Erkrankten gelangt waren.
Antonio Muro, der Entdecker der Epidemie, war nach seiner ersten Verblüffung sehr schnell zu einer anderen Ansicht gekommen. Am 15. Mai, vierzehn Tage nach dem Tod des achtjährigen Jaime, erklärte er während einer Lagebesprechung in der Klinik, die Krankheit sei durch ein Gift im Verdauungstrakt ausgelöst worden.
Doch da hatte die Regierung offenbar schon beschlossen, was die Wahrheit ist. Am Abend desselben Tages wurde Muro vom Dienst suspendiert – wegen physischer und psychischer Erschöpfung.
Muro – das bestätigen alle, die ihn näher kannten – war immer ein harter Arbeiter, zielstrebig, gründlich, geduldig. Als er die Klinik verlassen mußte, sagen sein Sohn und seine Frau, war er in bester Verfassung und voller Eifer, das neue Problem zu lösen.
Ein paar Wochen später, am 10. Juni, ließ Gesundheitsminister Jesus Sancho
Rof die Öffentlichkeit wissen, was die Epidemie verursacht hatte: renaturiertes Rapsöl, das in Fünf-Liter-Plastikflaschen billig durch Straßenhändler vertrieben wurde. Das Zeug war mit anderen Fetten und Zusätzen wie Chlorophyll gemischt. Es enthielt Anilide, eine Verbindung von Anilin mit Fettsäuren.
Die Spanier wurden Ende Juni aufgefordert, das im Straßenhandel erworbene angeblich giftige Fett gegen gutes Olivenöl zu tauschen. Fast eine halbe Million Liter der verschiedensten Marken und Zusammensetzungen wurden bei den Sammelstellen abgeliefert.
Die Krankheit hieß nun Toxisches Öl-Syndrom, und dabei blieb es. Alle Anstrengungen der spanischen Regierung galten nur noch dem einen Ziel: Beweise für die Öl-Hypothese zu finden. Hinweise auf andere Ursachen der Epidemie wurden unterdrückt oder beiseite gefegt, entsprechende Untersuchungen nicht gemacht.
Eine eilig gegründete Nationale Kommission (Plan Nacional) zur Aufklärung des Toxischen Öl-Syndroms sorgte für beeindruckende Propaganda, das Instituto Nacional de Toxicologia sowie das Institut für Ernährungsforschung in Majadahonda wurden eingeschaltet, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) eingespannt, Experten in den USA und Europa angeheuert.
Doch das Ergebnis, sechs Jahre nach dem Ausbruch der Epidemie, ist beschämend: Bis heute weiß niemand, welches Gift im Öl denn wirklich die tückische Krankheit verursacht hat.
Anilide allein, da sind sich die Experten inzwischen einig, können es nicht gewesen sein. Da andere kritische Verbindungen im gepanschten Öl trotz emsiger Suche nicht entdeckt wurden, wird inzwischen einfach behauptet, die Anilide hätten zusammen mit irgendeinem Stoff im Rapsöl die verheerende Wirkungen ausgelöst. Niemand weiß, welcher Stoff das sein soll.
Die Öl-Hypothese war von Anfang an abenteuerlich. Luis Frontela, Professor für Gerichtsmedizin an der Universität Sevilla, bezeichnet sie als „absurd und außerhalb der wissenschaftlichen Logik“. Frontela beschäftigt sich seit Jahren mit der seltsamen Epidemie. Es gebe, sagt der Mediziner, „nicht die geringste wissenschaftliche Basis“, die pathologischen Befunde dem Verzehr des gepanschten Öles zuzuschreiben.
Von Anfang an auch waren die übrigen Argumente für die Öl-These wenig überzeugend. Bei 97 Prozent aller Patienten, so heißt es, sei nachgewiesen worden, daß sie gepanschtes Öl verzehrt hätten. Nur knapp ein Prozent all derer jedoch, die solches Öl verbraucht hatten,
ist erkrankt. Im übrigen wird Öl seit Jahren, mit Wissen der Regierung, gepanscht und vertrieben.
Die Epidemie wurde nur in einem Gebiet im Nordwesten Madrids beobachtet. In weiten Gebieten Kataloniens beispielsweise wurden die gleichen, angeblich gefährlichen Ölsorten verkauft, ohne daß Vergiftungen vorkamen.
In den Epidemie-Zentren selbst – betroffen sind überwiegend Wohngegenden sozial schwacher Schichten – wirkte das Gift scheinbar willkürlich. In einigen Straßen, wo die Händler mit ihren Lkw Kunden fanden, waren nur vereinzelt Häuser betroffen. In manchen Familien wurde nur einer krank, in anderen waren es mehrere, aber nicht alle.
Rechtsanwälte haben mehrfach bei der Justiz Studien angefordert, die angeblich über die Ausbreitung der Epidemie gemacht wurden. Immer vergeblich. „Epidemiologische Untersuchungen existieren nicht“, sagt Rechtsanwalt Merino. „Oder sie sind so schlampig und rudimentär, daß niemand sie sehen darf.“
Es gab eine Studie, die auf Anraten ausländischer Experten 1983 zu klären versuchte, wie alles passiert war und warum. Das Arztehepaar Javier Martinez und Maria Jesus Clavera, beides Epidemiologen, war eigens von Barcelona nach Madrid umgezogen, um im Auftrag der Nationalen Kommission die Wege des vermeintlichen Giftöls vom Hersteller bis zum Verbraucher zu verfolgen.
Die beiden Wissenschaftler fanden heraus, daß es keinen gemeinsamen Nenner für alle verdächtigten Öle gibt. Viele Kranke, so schrieb Maria Jesus Clavera in einem Bericht, hätten Öle verzehrt, die weder Rapsöl noch Anilin enthalten hätten.
Überdies widerlegten die Epidemiologen mit handfesten Daten eine immer wieder zitierte Behauptung der Regierung: Die Zahl der neuen Krankenfälle ging keineswegs schlagartig zurück, nachdem der Gesundheitsminister das Öl als Ursache der Epidemie angeprangert hatte; bereits 14 Tage vorher hatten die Krankenhäuser bemerkenswert weniger Fälle registriert.
„Die Erkrankung am Toxischen Syndrom“, folgerten die beiden Spezialisten, „hat in Wirklichkeit nichts mit irgendeinem Bestandteil irgendeines Öles zu tun.“
Das war nicht die Art von Urteil, die von ihnen erwartet wurde. Die epidemiologische Forschungsgruppe der Nationalen Untersuchungskommission löste sich auf, Javier Martinez und seine Frau wurden arbeitslos. Daß bei einem Einbruch in ihre Wohnung nur Papiere gestohlen wurden, wunderte sie schon nicht mehr.
Trotz solcher kritischen Stimmen, die Öl kategorisch als Verursacher der Epidemie ausschlossen, hat die Nationale Kommission im Auftrag der Regierung immer nur wieder nach Belegen für ihre Hypothese gesucht und andere Möglichkeiten außer acht gelassen. So wurde reichlich verdächtiges Öl an Mäuse und Ratten verfüttert. Das Toxische Öl-Syndrom war an ihnen nicht reproduzierbar. Die Tiere gediehen prächtig, die Ratten wurden fett, und ihr Fell bekam schönen Glanz.
Auch die vielen ausländischen Experten, die bei der Lösung des Rätsels helfen sollen, haben der spanischen Regierung bislang nicht aus ihrer Beweisnot helfen können. Keine der in den untersuchten Ölen enthaltenen Substanzen, schrieb die US-Wissenschaftlerin Renate D. Kimbrough von den Centers for Disease Control in Atlanta, habe an Versuchstieren die Krankheit hervorgerufen, die in Spanien die Menschen betroffen habe. Auch die Food and Drug Administration – die US-Behörde für Nahrungsmittel und Arzneien – habe keine giftigen Substanzen entdecken können.
Deutsche Wissenschaftler kamen zu ähnlichen Ergebnissen. „Unsere Experimente mit Mäusen“, urteilte Claus Köppel von der Landesanstalt für Lebensmittel-, Arzneimittel- und gerichtliche Chemie Berlin 1982, „haben keinerlei toxische Wirkung hervorgerufen.“ Und: „Nach unserer Ansicht sind Anilide nicht die Verursacher des Toxischen Öl-Syndroms.“
Was aber hat dann seit 1981 Hunderte von Spaniern getötet und Tausende verkrüppelt?
Bei Fieber und Lungenentzündung bleibt es nicht. Viele Patienten verlieren die Zähne, andere die Haare. Oft ist die Zunge gelähmt. Die Kranken magern bis zum Skelett ab, sie haben Krämpfe und Zuckungen, Muskeln werden gelähmt und verkümmern. Viele haben verkrüppelte, krallenartige Hände und deformierte Füße.
Antonio Muro, der ehemalige Leiter des Hospital del Rey, hat als erster
intensiv danach gesucht, welches Gift solche erschreckenden Folgen haben könnte. Er gab schnell die These auf, daß es das Öl sein könnte, war aber überzeugt, daß der Verursacher auf dem typisch spanischen Salatteller zu finden sein müßte.
Nachdem Muro vom Dienst suspendiert war, sah er sich die Zutaten genauer an. Er argwöhnte eine Vergiftung mit Phosphorsäureester, einer Stoffklasse, der viele Pestizide angehören.
Phosphorsäureester sind wegen ihrer brutalen Wirkung auch die Grundlage für bio-chemische Kampfstoffe. Sie lähmen vor allem die Atemfunktion und das Nervensystem.
Nach Muros Ansicht steckte das Gift in Tomaten. Er verfolgte die Wege, auf denen die Früchte zu den Verbrauchern gelangt sein könnten. Nach seinen akribischen Aufzeichnungen sind etwa 80000 Kilo Tomaten aus Almeria im illegalen Straßenverkauf angeboten worden – überall dort, so behauptete der Epidemiologe, wo die Krankheit auftrat. Die Tomaten so Muro, seien zu früh geerntet worden, so daß noch hochgiftige Umwandlungsprodukte eines Pestizids – oder gar zweier sich gegenseitig verstärkender Stoffe – in den Früchten waren.
Die deutsche Chemiefirma Bayer wehrte sich, noch ehe ihr Name genannt wurde. Denn Muro meinte in der Tat das Bayer-Produkt Nemacur, ein giftiges Mittel gegen Bodenwürmer (Nematoden).
Bayer verwies darauf, daß Nemacur seit 1972 in Spanien zugelassen ist und heute in 38 Ländern verwendet wird. Von Unfällen mit diesem in der Tat hochgiftigen Produkt sei nie etwas bekannt geworden. Bayer bot im März 1982 Fachleuten der spanischen Regierung und der Nationalen Untersuchungskommission Daten über Nemacur an.
Mit Recht kann der Chemiekonzern behaupten, es lägen keinerlei wissenschaftliche Beweise dafür vor, daß sein Produkt die Epidemie ausgelöst hätte. Aber Bayer läßt sich auf ein gefährliches Spiel ein: Wenn die Firma sich auf die Ölthese und die kühnen Argumente der spanischen Regierung stützt, muß sie damit rechnen, daß ihre eigene Position immer wieder in Zweifel gezogen wird.
Es ist eben erstens nicht erwiesen, daß gepanschtes Rapsöl – wie die Regierungsbeamten behaupten – die Krankheitsursache war. Und zweitens gibt es zwar keine Beweise, wohl aber immer wieder ernst zu nehmende Hinweise, daß doch ein Phosphorsäureester (wie Nemacur) die Epidemie ausgelöst haben könnte. Daß die Nationale Kommission die Hinweise nicht zur Kenntnis nehmen wollte und ihnen nicht nachging, ist eine ganz andere Frage.
So sind die epidemiologischen Studien Muros als unwissenschaftlich abgetan worden, noch ehe sie jemand gesehen hatte. Als der Mediziner zu einem internationalen
Expertentreffen geladen wurde, erschien er mit zwei prall gefüllten Aktentaschen voll Material. Er war nach 30 Minuten wieder draußen, ohne seine Taschen auch nur geöffnet zu haben.
Und der Staatsanwalt? Ja, er hat Muro einmal gesehen. Inzwischen ist Muro tot, er starb 1985 an Krebs. Seine Untersuchungen liegen alle noch zu Hause bei seinem Sohn, der ebenfalls Arzt ist.
Dabei war Muro keineswegs der einzige, der die Öl-Hypothese bezweifelte. Schon kurz nach Bekanntwerden der Epidemie schrieb der Kinderarzt Angel Peralta in einem offenen Brief an das Madrider Gesundheitsministerium, es könnte sich hier um eine Pestizidvergiftung handeln„. Die klinischen Symptome ließen auf Phosphorsäureester schließen. Die Antwort des Gesundheitsministers: “Wir tun alles, um die verantwortliche Bakterie zu finden.„
Auch der Gerichtsmediziner Frontela aus Sevilla vermutet eine Pestizidvergiftung. Er will – wie Muro – Tomaten und Paprika, die mit Nemacur behandelt waren, an Ratten verfüttert haben. Die Tiere wiesen angeblich die gleichen Schäden an Lungen, Nieren und Gefäßen auf wie die erkrankten Menschen.
Frontela konnte seine damaligen Tierexperimente nicht beenden. Mehrere hundert Ratten verhungerten, weil der Tierpfleger der Universität ihnen – angeblich aus Kostengründen – kein Futter mehr gab.
Bayer-Forscher bezeichnen Frontelas Methoden als laienhaft, seine Befunde seien unvollständig. Eigene Versuche mit hohen Dosen Nemacur hätten bei Ratten keine Symptome oder organische Veränderungen erzeugt.
Klare Unterstützung bekamen Muro und Frontela von einem erfahrenen epidemiologischen Experten der Weltgesundheitsorganisation WHO. Die Symptome der kranken Spanier, so Francisco Martin Samos, erinnerten ihn “an andere Fälle in verschiedenen Ländern, wo es Vergiftungen durch Phosphorsäureester gab„. Die epidemiologischen Arbeiten von Muro seien außergewöhnlich. Die Nationale Kommission habe jedoch nur einen Schuldigen gesucht, nicht die wahren Ursachen der Katastrophe.
Gaston Vettorazzi, Pestizid-Experte der WHO in Genf, bat im Dezember 1984 Professor Frontela in Sevilla, er möchte doch der WHO die Ergebnisse seiner Tierexperimente mit Nemacur mitteilen. Die Weltgesundheitsorganisation mußte zusammen mit der UN-Landwirtschaftsorganisation FAO möglicherweise noch einmal neu über das Pestizid entscheiden.
Doch drei Monate später wurde der WHO-Experte in Genf kaltgestellt. Keinen
Augenblick lang, schrieb WHO-Generaldirektor Halfdan Mahler an den spanischen Gesundheitsminister, habe Vettorazzi mit den Recherchen wegen der Vergiftungen etwas zu tun gehabt. Der Anlaß für den unterwürfigen Brief: Vettorazzi war im spanischen Magazin “Cambio 16„ mit der Ansicht zitiert worden, Anilide im Öl könnten auf gar keinen Fall die Vergiftungen ausgelöst haben.
Nemacur aber, so die Wissenschaftler der Firma Bayer, könnte es auch nicht gewesen sein, weil Phosphorsäureester ein völlig anderes Krankheitsbild erzeugen und im menschlichen Körper eine ganz eindeutige Reaktion auslösen würde, die sogenannte Cholinesterase-Hemmung. Dabei geht es um Nervenreize, die durch ein Enzym gestoppt werden. Ist dieses Enzym, nämlich Cholinesterase, blockiert (gehemmt), hält der Nervenreiz an, ein Muskel beispielsweise verkrampft sich dauerhaft.
Diese Hemmung, so Bayer, habe in Spanien in keinem Fall vorgelegen. Also könne es keine Vergiftung durch Phosphorsäureester (Nemacur) gewesen sein.
Das Argument ist nicht widerlegbar. Es gibt zwar einen Arzt, Enrique de la Morena vom Krankenhaus Fundacion Jimenez Diaz in Madrid, der beteuert: Er habe entsprechende Untersuchungen gemacht, und die Cholinesterase-Hemmung habe in vielen Fällen vorgelegen. Aber seine Aufzeichnungen sind nicht mehr auffindbar – Morena halte sie, seinen eigenen Worten zufolge, der Nationalen Untersuchungskommission überlassen.
Es geschehen merkwürdige Dinge in Spanien. In Fuenlabrada, einer Satellitenstadt vor den Toren Madrids, gibt es eine Interessengemeinschaft von Menschen, die von der Epidemie betroffen sind. Mehrfach wurde im winzigen Büro der Gemeinschaft bereits eingebrochen.
Beim zweiten Bruch wurden die Täter, die durch das eingeschlagene Fenster eindrangen, ertappt. Es waren zwei Ortspolizisten und zwei Beamte der Stadtregierung.
Die Kranken von Fuenlabrada sind alle gezeichnet. Viele bewegen sich mühsam, sie sehen blaß oder gelb aus, müssen sich öfter übergeben. Die meisten schlafen nicht richtig, sie essen schlecht. Viele sind verkrüppelt. Ärztliche Untersuchungen bezahlen sie selbst. Die regierungstreuen Experten und die Justiz sind nicht daran interessiert, was mit diesen Leuten passiert: Es sind die falschen Opfer – sie wollen nicht glauben, daß gepanschtes Öl sie zu Krüppeln machte.
Die Kranken eines Nachbarortes bekommen Geld vom Staat. Sie versicherten, daß sie alle das verdächtige Öl genossen haben.
“Die Öltheorie„, behauptet Antonio Muro junior, “ist falsch. Hier soll ein Chemieskandal vertuscht werden.” Ein politischer Skandal der jungen spanischen Demokratie ist es mit Sicherheit. Ob es ein Skandal der Chemie-Industrie ist, wäre zu beweisen.
Professor Frontela will es versuchen. Der hartnäckige Mediziner möchte Affen mit Pestizid-verseuchtem Gemüse füttern, um seine These zu belegen.
Das Geld für diese Experimente hat ihm das spanische Justizministerium jetzt nach langem Zögern bewilligt. Selbst wenn Frontela seine Hypothese bestätigt findet – für das Verfahren gegen die Ölpanscher kommt er zu spät: Der Staatsanwalt will in sechs Monaten die Urteile sehen.