Frankfurter Rundschau, 28. September 2007
Die Angströhre
Einen Korb zu werfen ist gefährlich geworden:. Wer im rheinländischen Hilden Basketball spielen will, fällt in ein Loch. Die Bagger des Bayer-Konzern haben eine kilometerlange Schneise durch den Bolzplatz gegraben, an Schrebergärten vorbei, unter Autobahnbrücken, neben Einkaufszentren. Das 67 Kilometer lange Loch soll eine Pipeline von Dormagen nach Krefeld aufnehmen, durch die Bayer Kohlenmonoxid (CO) pumpen will. „Das ist eine riesige Gefahr“, sagt Ursula Probst von der Bürgerinitiative Mut Hilden e.V. Sie fürchtet sich vor dem unsichtbaren aber tödlichen Gas, dass unter ihrer Wohnsiedlung strömt. Die zierliche Frau ist nicht alleine: Tausende Anwohner sind inzwischen aktiv geworden.
Probst ist geübt im Protest. Es ist nicht erste Mal, dass sie Vorhaben von Stadt- oder Landesregierung verhindern möchte. Am Bücherregal neben dem Computer reiht sich ein Button an den nächsten: Für den Erhalt des historischen Marktplatzes, die Renovierung des alten Bahnhofs und jetzt gegen die Pipeline. Mindestens fünf Stunden am Tag organisiert die kurzhaarige Kettenraucherin den Protest, pflegt den Internetauftritt, schreibt E-Mails, hält Mahnwachen, malt Plakate. Als Frühverrentete kann sich die 63-Jährige den Aufwand leisten. „Es gibt eine Menge technischer Ungereimtheiten“, sagt sie. Die Leitung könne sabotiert werden, sie rostet schnell, die Schweißnähte könnten leckschlagen.
Vielleicht ist es auch die Tücke des Gases, das die Bürger so aktiv werden lässt. Es ist unsichtbar, geruchlos und ein lebensgefährliches Gift. Die Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft klassifiziert Kohlenmonoxid als sehr gefährlich ein: Wenn CO eingeatmet wird, verdrängt es den Sauerstoff im Blut. Die Betroffenen klagen zunächst über Kopfschmerzen, dann werden sie bewusstlos und können ersticken.
„Hundertprozentige Sicherheit kann es natürlich nicht geben“, sagt Christian Zöller, Sprecher der Bayer AG. Aber die Firma aber habe so viele Sicherheitsmaßnahmen ergriffen wie noch nie. „Das Thema ist unglaublich hoch gekocht“, sagt er. Zöller muss nur noch Fragen zu der Röhre beantworten, eine telefonische Hotline wurde eingerichtet. Bayer könne auf die Pipeline nicht verzichten. „Sie garantiert uns den reibungslosen Betriebsablauf für die Kunststoffproduktion“, sagt der Sprecher. Weil Bayer mit dem CO und seinen Endprodukten weitere Firmen beliefere an denen viele Arbeitsplätze hingen, sei der Bau „dem Gemeinwohl“ dienlich.
Das Gemeinwohl. Es ist der entscheidende Begriff in der erhitzten Debatte um den Bau der Pipeline. Dient diese nur den wirtschaftlichen Interessen oder auch der Gesellschaft insgesamt? Ohne Gemeinwohl dürfte Bayer nicht Hausbesitzer enteignen, nicht kilometerlange Löcher in die Erde graben. Als die Röhre beantragt wurde, sollten zeitgleich auch noch Propylenleitungen verlegt werden, die ein Konsortium von acht Firmen beliefert hätte. Übrig blieb nur die Leitung für Kohlenmonoxid und das Bayer Werk.
Politiker aller vier Fraktionen im nordrhein-westfälischen Landtag haben die Brisanz der Röhre verschlafen. Als das „Enteignungsgesetz“ am 15. Dezember 2005 beschlossen wurde, lag einer dieser randvollen Plenartage hinter ihnen, mit dutzenden Tagesordnungspunkten und Änderungsanträgen. Erst wurde das Gesetz „über das öffentliche Flaggen“ verlesen, später die neue Berufsbezeichnung Lebensmittelchemiker diskutiert, dann brachte die oppositionelle SPD noch einen Antrag zum Kleingartenwesen ein. Als Stunden später das Gesetz „für die Erreichung und den Betrieb einer Rohrleitungsanlage“ verabschiedet werden sollte, füllte sich schon die Kantine des Landtags. Alle Politikerinnen und Politiker stimmten ohne Diskussion mit Ja. Die Pipeline mit ihrem gefährlichen Inhalt war beschlossen.
Erst in diesem Jahr wurden Bürger auf das Projekt aufmerksam. Da rollten die Bagger schon, die Bau-Genehmigung hatte die Bezirksregierung erteilt, der Landtag die Enteignungen möglich gemacht. „Wir wachten endlich auf“, sagt Ursula Probst. Seitdem vergeht kein Tag ohne eine Podiumsdiskussion, Radiosendung oder Mahnwache in den betroffenen Dörfern. Der CDU-Oberbürgermeister von Monheim begrüßt Gäste der Stadt mit einem riesigen Transparent: „Willkommen in der Todeszone.“ Das verfehlt seine Wirkung nicht. Die Unterschriftenlisten werden jeden Tag um die von ein paar hundert Pipeline-Gegnern länger.
Die Grünen haben nun einen Antrag gestellt, das Enteignungsgesetz rückgängig zu machen. „Auch wir haben damals nicht intensiv genug geprüft“, sagt Johannes Remmel, parlamentarischer Geschäftsführer der grünen Landtagsfraktion in Düsseldorf. Aber jetzt seien die Grünen entschiedene Gegner: „Die damalige Geschäftsgrundlage ist entfallen, weil die Propylenleitung nicht mehr gebaut wird“, sagt er. Ob der Landtag das Enteignungsgesetz im Oktober wieder zurück nehmen wird? „Wir haben das Aufhebungsgesetz eingebracht, aber es wird schwierig“, glaubt Remmel.
Längst hat sich der Pipelinebau zu einer klassische Auseinandersetzung zwischen Industrie und Anwohnern entwickelt. Das Bayerwerk lässt seine Muskeln spielen. Es ist neben BASF eines der größten Chemiewerke in Nordrhein-Westfalen mit vier Standorten. Einige der Landtagsabgeordneten waren unter den 20 000 Beschäftigten, die beim Chemiewerk in Nordrhein-Westfalen angestellt sind. Zum Beispiel Karl Kress aus Neuss. Der Christdemokrat war bis 2002 Laborleiter bei Bayer und bezieht auch vom Werk seine Pension. Im Landtag ist er einer der prominentesten Befürworter der Pipeline. Er will die Aufregung nicht verstehen: „Die Vorwürfe an die Landesregierung sind vollkommen haltlos“, sagt er. Seine einfache Begründung: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Düsseldorfer Bezirkregierung ein rechtswidriges Verfahren zugelassen hätte.“ Das kann sich auch Peter Hausmann nicht vorstellen. Der Jurist ist Landesbezirksleiter der Gewerkschaft IGBCE und in dieser Funktion Mitglied im Aufsichtsrat von Bayer. Die Gewerkschaft kämpft unter seiner Führung für den Bau der Röhre, die für den „Chemiestandort NRW“ und damit für tausende Arbeitsplätze existenziell sei.
Gleichzeitig finden sich immer mehr CDU-Abgeordnete, die gegen den Bau sind – zumeist kommen sie aus der betroffenen Gegend und treffen täglich aufgebrachte Bürger und potenzielle Wähler. Einer von ihnen ist Hans-Dieter Clauser aus Langenfeld. Der Bauunternehmer kennt die Gefahren der Pipeline: „Niemand kann verhindern, dass mal aus Versehen ein Bagger auf eine Leitung stößt“, sagt der 55-Jährige. In einem so dicht besiedelten Gebiet wie dem Rheinland sei der Boden von einem dichten Netz aus Strom- Telefon- und Gasleitungen durchzogen. Clauser sitzt mit seinen Befürchtungen in Düsseldorf zwischen allen Stühlen. Er hofft jetzt darauf, dass Bayer noch zu Zugeständnissen bereit ist.
Vergangene Woche bekam Bayer erst einmal Recht: Das Düsseldorfer Verwaltungsgericht lehnte Eilanträge gegen die Pipeline ab. Die Röhre entspreche nach vorläufiger richterlicher Prüfung im Eilverfahren dem maßgeblichen Stand der Technik und könne als sicher bezeichnet werden, heißt es in dem Urteil. Aber Ursula Probst und ihre Mitstreiter wollen nicht aufgeben: Nun geht es vor das Oberverwaltungsgericht. Probst hat Fließdiagramme über mögliche Rechtswege ausgedruckt. „Wir sind keine technikfeindlichen Träumer“, sagt sie. Im Rheinland lebe man ohnehin umgeben von Chemie. „Aber bei einem tödlichen Gas ist eine Grenze.“ VON ANIKA JOERES