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[Störfall] Störfall Wuppertal

CBG Redaktion

29. November 2000

Chemie-GAU in Wuppertal im Juni 1999 muss neu bewertet werden

Konsequenzen für Staatsanwaltschaft und Bayer-Vorstand gefordert

18 Monate nach dem Chemie-GAU im Wuppertaler Bayer-Werk fordert Wolfgang Diesing, Rechtsanwalt der COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN (CBG), eine Neuaufnahme des Verfahrens gegen die Verantwortlichen der Bayer AG. Diesing übersandte heute ein Gutachten des Chemikers Professor Jürgen Rochlitz, welches gravierende Sicherheitsmängel aufdeckt, an die Wuppertaler Staatsanwaltschaft. Demnach mangelte es bei Bayer an einer angemessenen Unterweisung der Mitarbeiter und an einer effektiven Überwachung gefährlicher Reaktionen. Zudem habe das Management eine gründliche Untersuchung des Unfalls behindert. Am 8.6. 1999 waren bei einer Explosion eines Reaktors mehr als 100 Menschen verletzt worden, der Sachschaden betrug rund 200 Millionen DM – nur durch ein Wunder gab es keine Toten.
Prof. Rochlitz: „Auch in NRW müssen endlich Konsequenzen aus den Großunfällen bei Bayer und Hoechst gezogen werden. Die Regierung muss ein umfassendes Umwelthaftungsrecht einführen.“ Rochlitz kritisiert, dass Bayer keine Lehren aus dem Störfall bei Hoechst im Frühjahr 1993 gezogen hat, der ähnliche Ursachen hatte – dort wurde ein Chlornitrobenzol mit Alkali umgesetzt. „Die verantwortlichen Chemiker bei Bayer hätten wissen müssen, dass die Reaktion von 2,5-Chlornitrotoluol mit Alkali dieselben Risiken besitzt“, so Rochlitz.
Rechtsanwalt Diesing, der nach dem Unfall im Auftrag der CBG Anzeige gegen die Werksleitung erstattet hatte, ergänzte heute auf einer Pressekonferenz: „Wir verlangen eine Reaktion der Wuppertaler Staatsanwaltschaft auf unsere Strafanzeige.“ Diesing bemängelt, dass die Staatsanwaltschaft einen untergeordneten Schichtmeister verurteilt hat und die Verantwortlichen im Betrieb unbehelligt ließ.
Hubert Ostendorf von der CBG fordert den Rücktritt der Wuppertaler Werksleitung und des Bayer-Vorstandsvorsitzenden Dr. Manfred Schneider. Er kritisiert, dass nach dem Unfall nach Stoffen gesucht wurde, die mit den freigewordenen Stoffen nichts zu tun hatten, wodurch eine sinnvolle Behandlung der Verletzten nicht möglich war.

Wuppertal Juni 1999 : Neubewertung des Chemie-GAUs bei B A Y E R

Gutachten von Prof.Dr.Jürgen Rochlitz

Burgwald, den 9.11.2000

Gutachterliche Stellungnahme nach Akteneinsicht

Leider erst nach Abschluß des Prozesses gegen den Chemiemeister Puschmann u.a.(Bayer AG) – also über ein Jahr nach dem Chemie-Unglück im Juni 1999 in Wuppertal – hat die Staatsanwaltschaft die Akten an die Anwälte der Coordination gegen Bayer-Gefahren herausgerückt. Deswegen können wir erst jetzt eine völlige Neubewertung des Unglücks und seiner Folgen vornehmen.

Man hat den Eindruck, dies sollte so sein, denn die wahren Hintergründe des Unglücks wurden von der Fa. Bayer mit hoher Raffinesse verschleiert.
Die Rechtsbeistände der an der Verursachung beteiligten Personen waren Juristen des Konzerns, die schon dafür sorgten, daß alle die Aussage verweigern konnten, die unmittelbar mit der Explosivreaktion zu tun hatten. Lediglich der Meister Puschmann, verurteilt zu DM 5000.- Strafe, hatte sich erst Tage später gegenüber Bayer-Managern und Juristen als verantwortlich für das Unglück geoutet. Ein weiterer Mitarbeiter hatte ihm kurze Zeit vor der Explosion mitgeteilt, daß nicht die für die Reaktion vorgesehene Pottasche (Kaliumcarbonat) sondern Ätzkali (Kaliumhydroxid) bereitgestellt worden war. Puschmann wies ihn dennoch an, die falsche Chemikalie einzufüllen. Seinen Vorgesetzten gegenüber erklärte er dies als Versehen und Verwechslung.
Mit dieser Erklärung fängt die Reihe der Dubiositäten an.
Der angebliche black-out des Meisters Puschmann und der seines Mitarbeiters, einen falschen Stoff in einen Reaktor zu geben, ist mindestens so ungewöhnlich wie der berühmte black-out des ehemaligen Kanzlers Kohl vor dem Untersuchungsausschuß in Koblenz 1984. Jeder in der Chemie nur einigermaßen Unterrichtete kennt die Grundregel aller Chemie-Reaktionen, daß wenn A mit B reagieren sollen, unmöglich statt B der falsche Stoff C eingesetzt werden darf.
Doch bei allem Zweifel an dem Wahrheitsgehalt dieser Erklärung, müssen wir, solange keine weiteren Fakten bekannt werden, unsere Einschätzung zunächst darauf aufbauen. Allerdings müssen wir in diesem Zusammenhang dem Meister Puschmann den Vorwurf machen, daß er nicht schon am Unglückstag sein Eingeständnis vorgebracht hat. Er müßte es sofort nach der Explosion gewußt haben, daß es sein Fehler war. Sein Zögern führte dazu, daß die Mitexplosion bis zu einer halben Tonne des stark ätzenden Kaliumhydroxid unbeachtet blieb. – Behandlung und Prophylaxe von Leichtverletzten, insbesondere diejenigen mit Augenreizungen, hätten zielsicherer erfolgen können.

Die Selbstbezichtigung des Meisters Puschmann kam jedenfalls dem Management der Bayer AG sehr gelegen, lenkte es doch von seinen eigenen Versäumnissen ab. Dabei geht es um folgende:

1) Weder der Betriebschemiker noch dessen Vorgesetzte haben in der Betriebsanweisung oder bei der Sicherheitsbelehrung zu der geplanten Reaktion auf die Parallelität dieser Reaktion mit der analogen beim Störfall der Hoechst AG vom 22.2.1993 hingewiesen. Damals wurde das verwandte 1,2- Chlornitrobenzol mit Alkali/Methanol umgesetzt; nachdem die Rührung nicht rechtzeitig eingeschaltet worden war, kam es zur katastrophalen Explosion mit der Freisetzung von 10 t Reaktionsmasse, teilweise als „gelber Regen“ über den Nachbarorten. End- wie auch Ausgangsprodukt besitzen kreberregendes Potential, das letztere ist im Tierversuch eindeutig krebserregend. Seine Auswirkungen auf die betroffene Bevölkerung ist bis heute nicht endgültig geklärt. Der Störfall hat zu erheblichen Turbulenzen nicht nur bei der Hoechst AG geführt (u.a. Ablösung des Vorstandsvorsitzenden), sondern überall in Deutschland wurde das Risiko ähnlicher, exothermer Reaktionen diskutiert – auch in NRW.

Bei Bayer haben die verantwortlichen Chemiker wissen müssen, daß die analoge Reaktion des 2,5-Chlornitrotoluols mit Alkali ähnliche Risiken besitzt wie die Hoechster Reaktion. Möglicherweise wurde deswegen hilfsweise auf die weniger reaktive Pottasche zurückgegriffen. Jedenfalls hätten weitergehende Sicherheitsmaßnahmen stattfinden müssen. So hätte die Reaktion mit höchster Präzision und Aufmerksamkeit über die Daten der Meßwarte kontrolliert werden müssen – hiervon war nicht einmal ansatzweise die Rede. Und es hätten vor allem weitergehende Unterrichtungen stattfinden müssen – mit der Quintessenz : Kontrolle von Temperatur, Rührung ist hochsensibel; alles vermeiden, was zu schärferen Reaktionsbedingungen führt (d.h. auch niemals das reaktivere Ätzkali statt Pottasche einsetzen!).
Schließlich hätte eine Bayer-interne Reaktionsinventur nach dem Hoechster Störfall stattfinden müßen, ja auch vom NRW-Umweltministerium angeordnet werden müssen, wie dies z.B. seinerzeit in Hessen geschah. Dabei wäre man auch auf die Sensibilität der Produktion von Baycoxnitroether gestoßen. Von daher kann auch die Aufsichtsbehörde nicht von Versäumnissen freigesprochen werden.

2) Mit der Explosion bei Bayer-Wuppertal am 8.6.1999 wurden knapp 2,7 t des Reaktionsgemischs freigesetzt, das nicht nur das verwechselte stark ätzende Ätzkali enthielt, sondern die Reaktionskomponenten 2-Chlor-5-nitro-toluol und Trifluomercaptophenol, sowie ihre Reaktionsprodukte 2-Methyl-4-nitrophenol und Baycoxnitroether und sicherlich auch die entsprechenden substituierten Aniline. Alle diese Stoffe sind toxikologisch relevant, ihre Relevanz reicht vom karzinogenen Potential (ähnlich wie beim Hoechster Unfall) bis hin zum sicher auch nicht ganz ungefährlichen Mittel gegen Parasiten (Baycox).
Skandalös ist nun, daß bei den direkt nach der Explosion erfolgten Luftmessungen lediglich die klassischen Schadstoffe gemessen wurden und kein Versuch unternommen wurde, nach dem Verbleib der gefährlichen Inhaltsstoffe des explodierten Reaktors zu fahnden. Selbst die Hinweise von Verletzten auf eine „gelbe Wolke“ wurden vom Sachverständigen Schweers mit den klassischen Stickoxiden erklärt. An die freigesetzten gelbgefärbten Nitroverbindungen und die mit ihnen entstandenen Aniline dachte niemand. Vor allem unterließen es die Bayer-Chemiker nach ihrer ersten Unsicherheit über den explodierten Reaktor, die untersuchenden Stellen auf das freigesetzte Inventar hinzuweisen. So war auch eine verbindliche Prophylaxe bei der Behandlung der Verletzten nicht möglich. Es ist nicht auszuschließen, daß bei ihnen auch Langzeitschäden verursacht worden sind.Auch die involvierten staatlichen Ämter haben bei ihren Luft- und Staubuntersuchungen nicht die Inhaltsstoffe des Reaktors und ihre Reaktionsprodukte im Visier gehabt. Und kamen daher zu dem absurden Ergebnis, daß „Schadstoffe in bedeutendem Umfang nicht freigesetzt wurden“.

3) Zu den Methoden, die Hintergründe des Unfalls zu verschleiern, gehört schließlich eine besonders dreiste Manipulation. Staatsanwaltschaft und Behörden wurde durch nachträgliche Versuche vorgemacht, bei Bayer wäre die „stürmische“ Reaktion bei Einsatz von Kaliumhydroxid nicht bekannt gewesen. Aus Sicht eines ehemaligen Forschungschemikers liegt klar auf der Hand, daß jeder Chemiker, der die Synthese des Baycoxnitroethers entwickelt und untersucht, auch die kleine Variation mit Kaliumhydoxid ausprobiert. Hierbei muß schon früher bei den Vorarbeiten zur endgültigen Produktionsanweisung bekannt gewesen sein, daß Kaliumhydroxid ungeeignet ist – wegen zu stürmischen Verlaufs der Reaktion. Auch mit dieser Manipulation sollte die Verantwortung für den GAU von den Chemikern und den Führungsebenen abgelenkt werden.

Insgesamt haben wir zudem den Eindruck gewonnen, daß sämtliche staatlichen Investigatoren von den Chemikern bis zu den Kriminalpolizisten und Staatsanwälten fachlich in der Lagebeurteilung überfordert waren und vollständig abhängig von den Informationen der Fa. Bayer. Und dieser war vor allem daran gelegen, alles zu vermeiden, was zu Folgen wie in Hoechst 1993 führen könnte. Daher wurde ein Schuldiger von der untersten Ebene relativ schnell präsentiert; ansonsten war die Fa. daran interessiert, daß die Leitungsebene unbehelligt blieb und die Faktenlage darüber hinaus undurchsichtig blieb.

Fazit:

Das Wuppertaler Unglück muß durch die Staatsanwaltschaft und durch die staatlichen Aufsichtsbehörden neu bewertet werden. Dabei müssen die Versäumnisse des Managements, des Betriebschemikers und seiner unmittelbaren Vorgesetzten aber auch der Werksleitung und des Vorstands unter besonderer Berücksichtigung des analogen Störfalls von 1993 bei der Hoechst AG durchleuchtet werden. Da die aufgezeigten Manipulationen und Verschleierungen nur von höchster Ebene angeordnet oder wenigstens gebilligt worden sein können, sollten die Zuständigen in Werksleitung und Vorstand die Konsequenzen ziehen.

Zusammenfassung:

Es gab erhebliches Organisationsverschulden der Führungsebenen
(Betriebschemiker, Sicherheitsbeauftragter,Werksleiter,Vorstand):
* Die Verwechslung von Pottasche und Ätzkali hätte organisatorisch und technisch ausgeschlossen werden müssen.
* Die Meßwarte hätte besetzt sein müssen.*)
* Eine schärfste Kontrolle der Reaktion und ihrer Komponenten hätte angeordnet sein müssen
* Die Arbeitsanweisung hätte Hinweise auf die mögliche Explosivität der Reaktion enthalten müssen.

Denn die explosive Reaktion vom 8.´6.99 ist nicht irgendeine 08-15-Reaktion, sondern eine sehr ähnliche wie beim Explosions-Störfall 1993 bei Hoechst, als dort 10 Tonnen Reaktionsmasse zum „gelben Regen“ über der Nachbarschaft wurden.
Die genannten Maßnahmen hätten die Folgerungen aus dem Störfall bei der Hoechst-AG sein müssen, wie sie auch seinerzeit von der damaligen Oppositionspolitikerin Bärbel Höhn, jetzt Umweltministerin, gefordert wurden.
Der damalige Chemie-GAU führte zu erheblichen Turbulenzen bei der Hoechst AG (Rücktritt des Vorstandsvorsitzenden Hilgers) und in der Chemischen Industrie Hessens. So wurde die Chemische Produktion im städtischen Umfeld selbst vom nachfolgenden Vorstandsvorsitzenden Jürgen Dormann („stadtnahe Chemie“) problematisiert.
Für die Bayer-AG und den Spezialfall Wuppertal wäre eine soche Debatte längst überfällig – gerade deswegen mußte sie in der Folge des 8.6. im Keim erstickt werden.
Das Trauma des Hoechster GAU bestimmte das Verhalten des Bayer-Managements: Es mußte alles, aber auch alles getan werden, um ähnliche Folgen zu verhindern:
* durch schnellste Präsentation eines Schuldigen von der unteren Ebene,
* durch Vermeidung einer analytischen Suche nach dem freigesetzten Reaktionsinventar – wegen dessen ähnlicher Carcinogenität verglichen mit den bei Hoechst freigesetzten Stoffen. Also suchte und fand man nur die klassischen Schadstoffe.
Die Hinweise von Zeugen auf die „gelbe Wolke“ (Mischung aus
Nitro- und Aminoverbindungen) wurden unbeachtet gelassen.
* Abschottung sämtlicher betroffener Mitarbeiter vor Kreuzverhören durch Aussageverweigerungen,
* Schnelle Präsentation eines Beweises, daß die verwechselte Chemikalie die Explosion auslöste – ein Faktum, das den Chemikern, die die Reaktion entwickelt hatten, bekannt gewesen sein muß.

Wir stellen fest:
Bayer wollte jeden Eklat um seine miserable Sicherheits-Organisation vermeiden. Die verantwortlichen Chemiker, Betriebs- und Werksleitung sollten daher verschont werden vor heiklen Fragen.
Bayer wollte sich hinziehende Debatten um die gesundheitlichen Folgen der herausgeschleuderten Inhaltsstoffe erst gar nicht entstehen lassen.
Bayer wollte jeden Ansatz einer Debatte um riskante Produktionen im engen Wuppertal in unmittelbarer Nachbarschaft von Wohnbebauung verhindern.
Sowohl Bayer als auch die Landesregierung haben offensichtlich nicht die Konsequenzen aus dem Hoechster Störfall gezogen.

Jetzt sind Staatsanwaltschaft und kontrollierende Landesbehörden gefordert, das Verfahren neu aufzurollen.

*) Der seinerzeit von den Behörden eingesetzte Gutachter kam zu dem Ergebnis, daß bei einer besetzten Meßwarte der ungewöhnliche Verlauf der Reaktion mit frühzeitig ansteigender Temperatur noch rechtzeitig hätte erkannt werden können, um mit Gegenmaßnahmen die Explosion zu verhindern!