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SWB 01/2023

Neue Zeit, alte Profite

BAYERs Kriegswirtschaft

Die Zeitenwende hat auch für den BAYER-Konzern einige Veränderungen mit sich gebracht. Eines aber bleibt konstant: Der Profit.

Von Jan Pehrke

Von dem, was in der Ukraine bevorstehen würde, haben BAYER & Co. bereits etwas früher erfahren als andere. Ein paar Tage vor dem 24. Februar nimmt der republikanische US-Senator Lindsey Graham die Konzern-Bosse am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz beiseite und informiert sie über den bevorstehenden russischen Angriff. Er machte auch schon mal eine Rechnung auf: „Ihr werdet den Preis zahlen.“ Und möglicherweise würde China im Zuge Taiwan attackieren, fügte Graham hinzu. Das Manager Magazin machte in seiner Mai-Ausgabe mit diesem Treffen seinen ausladenden Artikel zum Schwerpunkt-Thema „Kriegswirtschaft“ auf. „Rohstoffmangel, Staatseingriffe, China-Risiko – Wie die deutsche Industrie ihr bedrohtes Geschäftsmodell sichern will“, lautete der Untertitel auf dem Cover.

Der BMW-Chef Oliver Zipse beruft gleich nach seiner Rückkehr aus München eine Sondersitzung des Vorstandes ein. Dort gibt er die Devise aus, künftig alle Entscheidungen „unter klarer Berücksichtigung der geo-strategischen Lage“ zu treffen. Und bald darauf schon kommt es zu einem regelmäßigen Austausch – „alle drei bis vier Tage“, wie das Manager Magazin weiß – von Zipse und seinen DAX-KollegInnen mit Wirtschaftsminister Robert Habeck. Auch der „Bundesverband der deutschen Industrie“ (BDI) kann sich über mangelhafte Kommunikation nicht beklagen. „Fast bei jedem Problem ruft der Wirtschaftsminister bei uns an“, lobt ein BDI-Mitarbeiter.

Im Schulterschluss
Kontakte mit BAYER bleiben da nicht aus. Habeck habe sich vom Vorstandsvorsitzenden Werner Baumann darüber in Kenntnis setzen lassen, welche Auswirkungen ein sofortiger Boykott russischer Öl- und Gaslieferungen auf die Industrie haben würde, berichtete der Focus-Journalist Jan Fleischhauer im Presseclub. Die Haltung des Unternehmenschefs zu einem solchen Stopp war eindeutig. In einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung formulierte er sie so: „Ich habe große Sympathie für Leute mit dieser Maximal-Position, weil sie aus tiefster Überzeugung sagen, hier passiere ein himmelschreiendes Unrecht (...) Die Lage ist aber viel komplexer. Wenn es Energie-Engpässe in Deutschland gäbe, würde wie beschrieben ein großer Teil der Wirtschaft stillstehen. Die Größenordnung der sich daraus ergebenden volkswirtschaftlichen Verwerfungen ist vielen Menschen nicht bewusst.“ Habeck wurde sie Fleischhauer zufolge nach dem Gespräch bewusst; anschließend habe der Minister allen medialen Gegenwinds zum Trotz die Position vertreten, ein Verzicht auf Importe aus Russland sei für die Wirtschaft nicht zu schultern. Stattdessen ging der Grünen-Politiker daran, andere möglichst billige Energie-Quellen aufzutun – und als Shopping Guide bei den Einkaufstouren nach Katar und Kanada durfte Baumann natürlich nicht fehlen.
Sicherheitshalber brachte sich der Leverkusener Multi aber auch schon mal für den Fall in Stellung, dass es mal knapp werden würde mit dem Gas. Als Konzern, der in den Bereichen „Gesundheit“ und „Landwirtschaft“ operiert, beanspruchte er Systemrelevanz für sich. Dabei hält seine Pharma-Produktpalette nun wirklich keine unbedingt benötigten Medikamente bereit und finden seine Genpflanzen/Pestizid-Kombipacks hauptsächlich zum Gedeih von Ackerfrüchten, die in den Trögen der Tierfabriken landen, Absatz. Nichtsdestotrotz will der Global Player mit von der Partie sein, „wenn es darum geht, sehr kritische Produktion im Verhältnis zu weniger kritischen Produktionen zu privilegieren“, wie es Werner Baumann in einem Interview mit dem Podcast The Pioneer Briefing formulierte.

Eine Priorisierung gegenüber den mittelständischen Betrieben konnten BAYER & Co. bereits durchsetzen. Bei einer Gas-Mangellage sieht der Notfallplan der Bundesregierung zunächst Einschränkungen „nach der Rasenmäher-Methode“ (FAZ) bei den 40.000 kleineren Unternehmen vor. Der Club der 2.500 größeren bleibt dagegen erst einmal verschont und darf bei einer weiteren Verschärfung der Lage auf Einzelfall-Behandlung nach dem Kriterium der Wichtigkeit der Produktion hoffen. Das hält den „Verband der Chemischen Industrie“ jedoch nicht davon ab, seine JuristInnen schon mal vorab prüfen zu lassen, ob bei einer Kappung der Energie-Zufuhr eventuell Schadensersatz-Ansprüche bestehen.

Auch bei der Gaspreis-Bremse, welche die Ausgaben für 70 Prozent des Verbrauchs deckelt, erhalten die Konzerne Vorfahrt. Bei ihnen übernimmt der Staat schon ab Januar 2023 die Mehrkosten, bei den Privathaushalten, kleineren und mittleren Betrieben erst zwei Monate später. So wollte es die ExpertInnen-Kommission, in der neben Industrie-VertreterInnen auch Michael Vassiliadis von der IG Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) saß. Und als Vorsitzender einer Gewerkschaft, die sich der Branche gerne als Co-Managerin andient, weiß der, was die Vorstandsetagen wünschen. Die Verträge der Multis wären „präziser und schneller umzustellen“, überdies handele es sich um eine überschaubarere Zielgruppe als „20 Millionen Gas-Kunden“, sagte Vassiliadis zur Begründung. Die Rheinische Post vermochte das alles nicht zu überzeugen. „Problematisch bleibt, dass großen Unternehmen früh und kleinen spät geholfen werden soll“, hielt das Blatt aus Düsseldorf fest.

HV im Zeichen des Krieges
Die Chemie-Branche zählt zu den Großabnehmern von Erdgas. Ihr Anteil am Gesamtverbrauch beträgt nach Angaben des „Verbandes der Chemischen Industrie“ (VCI) rund 15 Prozent. Bei den Kosten für eine Abkoppelung von russischen Lieferungen, welche die Bundesregierung auf ungefähr 46 Milliarden Euro beziffert, machten sich die BAYER-AktionärInnen auf der Hauptversammlung des Konzerns Ende April 2022 deshalb Sorgen um ihre Einkünfte. Aber Werner Baumann versuchte sie zu beruhigen. „BAYER hat sich in den vergangenen Jahren zu einem Lifescience-Unternehmen entwickelt. Das Thema ‚Energiekosten‘ hat für uns daher nicht mehr die Bedeutung, die es einmal hatte“, sagte er mit Verweis auf die bereits vor längerer Zeit erfolgte Trennung vom Kunststoff- und Chemiegeschäft. Aber ganz ohne Gas & Co. geht es auch nicht: „Dennoch brauchen auch wir zuverlässigen und bezahlbaren Zugang zu verschiedenen Energieträgern (...) Wir arbeiten intensiv an der Sicherstellung der Versorgung unserer Standorte.“ Dazu nimmt das Unternehmen natürlich auch Einfluss auf die Bundesregierung. Aber Lobbyismus heißt das bei Baumann nicht, er spricht lieber von „Beiträgen zu Analysen für die Entscheidungsträger im regulatorischen und auch politischen Raum.“

Auch zu den Lieferketten im Allgemeinen bestand Informationsbedarf. So wollten die AktionärInnen etwa wissen, was der Vorstand unternehmen würde, um den Konzern unabhängiger von politisch instabilen Staaten in Osteuropa zu machen. „Im Rahmen unserer Bemühungen um nachhaltige Lieferketten erfassen wir die gesamte Lieferkette für kritische Materialien, um Risiken und Abhängigkeiten zu verringern“, versicherte der BAYER-Chef. Sogar China kam an dem Tag auf die Tagesordnung. „Wir wurden gefragt, was wir mit unseren Anlagen in China machen und welche Aktiva im Risiko stehen würden, wenn ein Krieg wie in der Ukraine in Asien entstehen würde“, referierte Baumann. Das hänge von der konkreten Ausprägung des Konfliktes ab, antwortete er und mochte darüber hinaus keine weiteren Spekulationen anstellen. „Unabhängig davon arbeiten wir selbstverständlich daran, unser Produktionsnetzwerk angesichts steigender geopolitischer Spannungen und sich teilweise verändernder gesetzlicher Vorgaben resilienter aufzustellen“, hielt er fest und erklärte in diesem Zusammenhang die Geschäftsfelder „Gesundheit“ und „Landwirtschaft“ zu „Kernaufgaben nationaler Sicherheit“. Zum „Primat der Politik“ hatte der Vorstandsvorsitzende sich bereits auf der Bilanzpressekonferenz am 1. März des Jahres bekannt, und was „Zeitenwende“ generell für den Multi bedeutet, fasste er auf der Hauptversammlung in dem Satz zusammen: „Wir müssen leider davon ausgehen, dass die implizite Grundannahme eines freien Welthandels, die eher eine Optimierung nach rein ökonomischen Effizienz-Gesichtspunkten erlaubt, nicht uneingeschränkt gilt.“

Der am Tag der HV in der FAZ erschienene Artikel zu „Chemie im Krieg“ sah es ähnlich. „Jedem (...) sollte klar sein, dass diese Zeitenwende, das Ende der Globalisierung, auch das Geschäftsmodell von Deutschland erschüttert (...) Die Chemie-Industrie war nicht blauäugiger als der Rest und auch nicht unverfrorener. Sie steht nur am Anfang der Wertschöpfungskette. Kunden, Aktionäre, Beschäftigte, alle haben davon profitiert. Und alle wird es nun treffen“, prophezeite das Blatt.

Die Deglobalisierung setzte allerdings nicht erst mit dem Ukraine-Krieg und der Corona-Krise ein. Und auch nicht erst mit Donald Trump und seinem „America first“. Die USA leiteten schon vorher ein Kurswechsel ein. Durch das Fracking von Energie-Importen unabhängig, verlor das Land an freien Warenströmen merklich das Interesse. Und folgerichtig bestand auch keine Notwendigkeit mehr, diesen Fluss notfalls mit militärischer Gewalt abzusichern und für Ruhe im Karton zu sorgen. Zudem war das mit der Globalisierung verbundene Kalkül der Vereinigten Staaten nicht aufgegangen, China durch die Einbindung in den Welthandel, der sich mit dem WTO-Beitritt des Staates im Jahr 2001 vollzog, einhegen zu können.Wirtschaftssicherheitspolitik
Der Ausbruch der Pandemie und besonders der Ukraine-Krieg veränderten aber doch etwas. Der Sicherheitsaspekt fand Eintritt in das Wirtschaftsleben. „Deutschland braucht eine Wirtschaftssicherheitspolitik“, sagt Robert Habecks Parlamentarische Staatssekretärin und Parteigenossin Franziska Brandtner. Und der Ökonom Rüdiger Bachmann bezeichnet es in Bezug auf die billigen Gas-Lieferungen aus Russland als einen Fehler, die Kosten der Abhängigkeit nicht mit in die Rechnung einbezogen zu haben. Dies habe die Preis-Wahrheit unterminiert, so der Wirtschaftswissenschaftler.

Die staatliche finanzierte „Stiftung Wissenschaft und Politik“ spricht in diesem Zusammenhang von „Interdependenz-Verwundbarkeit“. BAYER & Co. seien „Opfer ihrer eigenen Entscheidungen geworden, bei denen sie sich nur an Kosten-Effizienz orientierten“, heißt es in der Studie „Die neue Geopolitik der Lieferketten“. „Je stärker Lieferketten in den Schatten der Großmacht-Konkurrenz geraten, umso schwächer sind ihre ökonomischen Bestimmungsfaktoren ausgeprägt“, hält Autor Günther Maihold fest. Dagegen steht jetzt „Sicherer Handel“ und „Lieferketten-Souveränität“ auf der Tagesordnung. Aber das geht ins Geld. „Just-in-Time“ ist weit billiger zu haben als das krisenfestere „Just-in-Case“. Folgerichtig machte BAYER bei der Präsentation der Geschäftszahlen für das dritte Quartal 2022 „Kostensteigerungen bei Input-Materialien, Energie, Fracht und Lagerhaltung“ geltend. Maihold setzt deshalb auch die Lasten-Verteilung auf die Agenda: „ein Hauptdiskussionspunkt, der zwischen Staat(en) und Unternehmen geklärt werden muss“. Generell rücken diese beiden Akteure für ihn im Zuge der „Politisierung der Lieferketten“ jedoch enger zusammen, vor allem bei der Entscheidung darüber, „an welchen Orten Produktionsanlagen künftig sicher und berechenbar betrieben werden können und sollen“. Aber auch die Klärung der Frage, ob die jeweils produzierten Güter und Dienstleistungen als strategisch wichtig für die jeweilige Ökonomie gelten können, erfolge gemeinsam. Bei dieser konzertierten Aktion misst Maihold BAYER & Co. als „lead firms“ eine besondere Rolle zu, da sie im Zentrum eines Lieferanten-Netzwerkes stehen und den Takt vorgeben. „Endpunkt des Bestrebens, ‚sichere’ Lieferketten aufzubauen, wäre dann eine geopolitische Neuordnung der Welt“, resümiert er.

Statt „offshoring“ ist dazu „reshoring“ – also die Rückverlagerung von Produktionskapazitäten an den Stammsitz – oder „friendshoring“ – in den Worten der Ampelkoalition Handel mit solchen Ländern, „mit denen wir unsere Werte teilen“ – angesagt. Dementsprechend haben das Auffrischen alter Bekanntschaften und neue Freundschaftsanfragen für die Europäische Union Hochkonjunktur. So hat sie ein Handelsabkommen mit Neuseeland unterzeichnet, das mit Chile schon vor einiger Zeit abgeschlossene modernisiert und Verhandlungen über einen Vertrag mit Indien begonnen. Nach der Wahl-Niederlage von Jair Bolsonaro in Brasilien sieht die EU auch Chancen, den Mercosur-Deal mit den lateinamerikanischen Staaten Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay zum Abschluss zu bringen. Sogar Diskussionen über das TTIP-Vertragswerk mit den USA beginnen wieder. Und im November hat der Bundestag dem CETA-Handelsabkommen mit Kanada, das vor allem bei den Grünen lange Zeit sehr umstritten war, abgesegnet. „Verschwende niemals eine gute Krise. Der dem britischen Kriegspremier Winston Churchill zugeschriebene Grundsatz bewährt sich aktuell in der Handelspolitik“, so kommentierte die FAZ das Ergebnis der Abstimmung.

Das China-Syndrom
Aber nur mit guten Geschäften unter Freunden langt es einfach nicht. „Ohne russisches Gas wird es irgendwann gehen, aber ohne den Milliarden-Markt in China nicht“, heißt es in dem „Chemie im Krieg“-Artikel der FAZ. Nach den USA ist das Reich der Mitte der zweitwichtigste Handelspartner Deutschlands. Im Jahr 2021 gingen Ausfuhren im Wert von 103,7 Milliarden Euro dorthin. VW macht rund 40 Prozent seines Umsatzes in China, und MERCEDES und BMW setzen in dem Land fast ein Drittel ihrer Autos ab. Bei den Importen nimmt dieses sogar die Spitzen-Position ein; Einfuhren im Wert von 141 Milliarden Euro kommen hierzulande an. Besondere Bedeutung für die hiesige Industrie haben dabei Rohstoffe wie seltene Erden und Batterie-Komponenten, ohne die die Fertigung von E-Autos nicht auskommt.

Darum lehnt Bundeskanzler Olaf Scholz ein „Decoupling“ ab. Er will die deutsche Wirtschaft nicht von der chinesischen entkoppeln, sondern strebt lediglich eine größere Diversifikation der bundesrepublikanischen Handelsbeziehungen an. Dafür riskiert der Sozialdemokrat sogar Koalitionsstreit mit den Grünen und Verstimmungen im transatlantischen Verhältnis, denn die USA betrachten China als Feind. Washington legte Scholz seine Position leicht diplomatisch verklausuliert in der einflussreichen Zeitschrift Foreign Policy dar. „Chinas Aufstieg ist weder eine Rechtfertigung für die Isolation Pekings noch für eine Einschränkung der Zusammenarbeit. Aber zugleich rechtfertigt Chinas wachsende Macht auch keine Hegemonialansprüche in Asien und darüber hinaus“, schrieb er dort.

Den Worten waren Taten vorausgegangen. Anfang November flog Scholz nach China, mit einer 12-köpfigen Wirtschaftsdelegation im Gepäck, darunter auch BAYER-Chef Werner Baumann. Die guten Beziehungen des Leverkusener Multis zu dem Land hob dieser in seinem Statement zur „China International Import Expo“ hervor, auf welcher der Konzern mit einem großen Messe-Stand vertreten war. „Dieses Jahr ist auch das 140-jährige Jubiläum unseres Unternehmens in China. In diesen vielen Jahren und Jahrzehnten hat BAYER die Entwicklung und den Fortschritt Chinas miterlebt, und wir sind stolz darauf, ein Teil davon zu sein“, sagte er und pries die Wirtschaftspolitik des Staates. „Wir blicken sehr optimistisch in die Zukunft, da wir von Chinas kontinuierlichen Bemühungen ermutigt werden, ein solides Geschäftsumfeld für ausländische Investoren zu schaffen“, so Baumann. Unter anderem kündigte er die Erweiterung der Pharma-Produktion in Peking, den Bau einer neuen Pestizid-Anlage in der Provinz Zhejiang sowie Kooperationen mit Universitäten, Start-Ups und anderen Unternehmen an.

Besonders viel Hoffnung setzt der Leverkusener Multi auf den Landwirtschaftsbereich. China plant auf diesem Gebiet nämlich Modernisierungen, weg von der kleinbäuerlichen Bewirtschaftung der Felder, hin zu größeren Betrieben. Und an dieser agro-industriellen Entwicklung will der Global Player mitverdienen. „Unser oberstes Ziel ist es, die Transformation und Modernisierung der chinesischen Landwirtschaft zu unterstützen“, erklärte der BAYER-Manager Alfonso Alba zur „China International Import Expo“.

Die Nahrungsmittel-Krise
Generell rückte der Landwirtschaftssektor durch den Krieg in das Zentrum der Aufmerksamkeit, denn der Waffengang beschwor eine Nahrungsmittel-Krise herauf. Russland ist nämlich der größte Weizen-Exporteur der Welt und die Ukraine die Nr. 5. Besonders die Länder des Globalen Südens hängen von diesen Lieferungen ab, aber nach dem 24. Februar kamen diese ins Stocken. Die Ukraine hinderten die Bombardements daran, die Märkte ausreichend mit Weizen und anderen Ackerfrüchten zu versorgen. Die russische Armee zerstörte Getreide-Speicher und warf Minen über Felder ab. Millionen Hektar Anbau-Fläche gingen so verloren.

Russland stoppte seine Ausfuhren Ende März mit Verweis auf die Sanktionen. Das Land trieben jedoch auch andere Motive, worauf Eva Gelinsky in ihrem Artikel „Druck durch Hunger“ hinwies. Sie zitierte einen Post des ehemaligen Präsidenten Dimitri Medwedew auf Telegram, mit dem der Politiker die Nahrungsmittel-Versorgung als Kriegseinsatz ins Spiel brachte. Er verwies dort darauf, dass „viele Länder für ihre Ernährungssicherheit auf unsere Lieferungen angewiesen sind. Es stellt sich heraus, dass unsere Agrar-Güter unsere heimliche Waffe sind. Unauffällig, aber mächtig.“ Ein Alleinstellungsmerkmal kann er damit Gelinsky zufolge aber nicht beanspruchen. Auch im Jemen-Krieg und im äthiopischen Bürgerkrieg bedienten sich die Kontrahenden dieses Mittels. Die USA wissen ebenfalls damit umzugehen, hält die Autorin fest und belegt das mit einer Äußerung des früheren Senators Hubert Humphrey. „Nahrungsmittel verleihen Macht. In einem sehr realen Sinne sind sie unser besonderer Maßstab für Macht“, sagte der Politiker einst. Und auch Anton Hofreiter kennt die Wirksamkeit dieses Instruments. „Ohne China beim Namen zu nennen, erörterte er folgendes Szenario“, gibt die Berliner Zeitung seine Worte wieder: „Wenn uns ein Land Seltene Erden vorenthalten würde, könnten wir entgegnen: ‚Was wollt ihr eigentlich essen?’“
Schon drei Wochen nach dem Anfang des Krieges erhöhten sich die Preise für einige Weizen-Sorten um 50 Prozent. Allerdings hatten sie bereits in den zwei Jahren davor um 40 Prozent zugelegt, weshalb die Initiative FIAN den Konflikt als Verstärker, aber nicht als Ursache der Nahrungsmittel-Krise bezeichnet. Als das grundsätzliche Problem erachtet die Organisation die Import-Abhängigkeit z. B. der Länder Afrikas durch ihre Einbindung in den globalen Agrarmarkt und den damit verbundenen Rückgang der heimischen Nahrungsmittel-Produktion. Zudem bilden die Preise nicht nur Angebot und Nachfrage ab. „Vielmehr scheinen die Unternehmen in einigen Wirtschaftszweigen die Preissteigerungen dazu genutzt zu haben, ihre Gewinne auszuweiten – das gilt vor allem für den Handel, die Landwirtschaft und den Bau“, hält eine Studie des Ifo-Instituts fest und spricht von „Gewinn-Inflation“. Und die Finanzmärkte hatten ebenfalls ihre Hände im Spiel: Eine Reihe von Banken riet AnlegerInnen nämlich gleich nach Beginn der Kampfhandlungen dazu, auf eine Verteuerung der Lebensmittel-Grundstoffe zu setzen.

Die UN konnte dann für eine leichte Entspannung der Situation sorgen. Sie erreichte in Verhandlungen mit Russland unter Vermittlung der Türkei, dass auch unter dem Sanktionsregime Getreide der beiden kriegführenden Parteien in Armutsregionen gelangt. Als Bremser erwies sich hierbei allerdings die EU, denn ihre Finanz-Restriktionen gegen Oligarchen blockierten lange Zeit nicht wenig Lieferungen, weil die Bestimmungen den für die Abwicklung der Geschäfte nötigen Zahlungsverkehr (Hafengebühren, Frachtversicherungen) verunmöglichten. Erst Mitte Dezember weichte die Europäische Union die Regelungen etwas auf.
Der Branche bescheren solche Mangellagen steigende Gewinne, weil das verknappte Angebot die Nachfrage nach allen landwirtschaftlichen Gütern, Betriebsmitteln und Dienstleistungen erhöht. So strichen Getreide-Multis wie CARGILL, Landmaschinen-Hersteller wie JOHN DEERE und natürlich Agro-Riesen wie BAYER saftige Renditen ein.

Was andere Nahrungsmittel-Krise nennen, heißt deshalb beim Leverkusener Multi anders. Von „einem anhaltend positiven Marktumfeld“ sprach Werner Baumann im November bei der Bekanntgabe der neuesten Geschäftszahlen. „Trotz der steigenden Inflation und der globalen Lieferketten-Probleme konnten wir Umsatz und Ergebnis im dritten Quartal erneut steigern“, freute er sich. Um 126 Prozent legte der operative Gewinn gegenüber dem Vorjahreswert zu. Besser schnitten nur noch die DEUTSCHE BANK, RWE und DAIMLER ab.

Da lag die Frage der Wochenzeitung Die Zeit an BAYERs Agrar-Chef Rodrigo Santos nahe: „Der Krieg Russlands gegen die Ukraine verschärft die Welternährungskrise. Zugleich ist BAYERs Aktien-Kurs seit der Invasion um 25 Prozent gestiegen und steht so hoch wie seit zwei Jahren nicht mehr. Wie erklären Sie sich das?“
„Einen Zusammenhang zwischen dem Krieg und unserem Aktien-Kurs sehe ich nicht“, lautete die Antwort. Seinen Churchill hatte Santos jedoch gelesen. „Generell können Krisen aber auch dazu führen, dass mehr Menschen die Notwendigkeit von Innovationen erkennen. Und deshalb müssen wir in Europa nicht nur über digitale Landwirtschaft reden, sondern dringend auch über biologische Pflanzenschutzmittel und über die neuen molekular-biologischen Verfahren wie Genome Editing mithilfe von Crispr/Cas“, meinte er.
Und Rede-Bedarf meldeten die Industrie-VertreterInnen auch in Sachen „Unternehmenssteuern“, „Rohstoff-Ministerium“, „Reform der Sozialsysteme“, „Entfesselungsoffensive“ im Allgemeinen und „Beschleunigung von Genehmigungsverfahren“ im Besonderen an.

Kriegsverlierer Umwelt
Darüber hinaus nutzten interessierte Krei-se die Ungunst der Stunde, um schon immer ungeliebte umweltpolitische Maßnahmen aufzuschieben. Kurz vor Weihnachten schickte die EU den Plan, den Pestizid-Gebrauch bis zum Jahr 2030 um die Hälfte zu senken in die Warteschleife einer erneuten Folge-Abschätzung, weil die alte „auf Daten beruht, die vor dem Ausbruch des russischen Krieges in der Ukraine erhoben und analysiert wurden“ und deshalb nach Meinung der Mitgliedsländer dessen „langfristigen Auswirkungen auf die Ernährungssicherheit und die Wettbewerbsfähigkeit des EU-Agrarsektors nicht berücksichtigt“. Auch verschwand das Vorhaben, die Ausfuhr von innerhalb der EU nicht zugelassenen Ackergifte zu verbieten, von der Agenda für das Jahr 2023. Darüber hinaus setzte die EU-Kommission einige Beschlüsse der „Gemeinsamen Agrarpolitik“ (GAP) aus. Sie erlaubte bei der Fruchtfolgen-Regelung Ausnahmen und setzte die Auflagen zur Flächenstilllegung aus, die dem Artenschutz dienen sollten. Aber auch andere umweltpolitische Maßnahmen wie eine schärfere Chemikalien-Regulierung mussten vorerst dran glauben oder kamen nur deutlich abgeschwächt durch wie die Methan-Verordnung. Und nicht zuletzt rückt das Comeback der fossilen Energieträger im Gefolge des Ukraine-Krieges das Erreichen der Klima-Ziele in weite Ferne.
Trotz alledem ist ein Ende der Kampfhandlungen nicht abzusehen. Nicht einmal ein Waffenstillstand zu Weihnachten, wie von den INTERNATIONALEN ÄRZTINNEN FÜR DIE VERHÜTUNG DES ATOMKRIEGES (IPPNW) angeregt, kam zustande. Stattdessen eskaliert die Lage immer mehr mit Angriffen auf lebensnotwendige Infrastruktur, Sprengungen an Pipelines, einer Ausweitung der Kampfzonen und schwererem Geschütz – die Logik der Gewalt eben. Von Pazifismus redet niemand mehr, vom Frieden auch nicht. „Wenn nicht über Frieden gesprochen wird, bleibt er schlicht unerreichbar. Es ist notwendig und zukunftsweisend, über Bedingungen des Friedens mindestens so intensiv zu sprechen wie über den Krieg“, heißt es in einer ganzseitigen, in der FAZ erschienenen Anzeige, für die mensch sich berufenere Auftraggeber als vier Industrie- und Handelskammern aus dem Ostteil der Republik gewünscht hätte. Sogar den Philosophen Ludwig Wittgenstein mit seinem Satz „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt“ zitieren die Verbände. Und noch über etwas anderes herrscht Schweigen: Die Zahl der Toten und Verwundeten. Nur Ursula von der Leyen erwähnte sie auf Twitter einmal, um damit die Forderung nach russischen Reparationszahlungen argumentativ zu untermauern. Unter Berufung auf den US-General Mark Milley, der den Präsidenten Joe Biden in militärischen Fragen berät, nannte sie 100.000 tote Soldaten auf russischer und 100.000 auf ukrainischer Seite sowie noch einmal 20.000 tote ukrainische ZivilistInnen. Aber der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj intervenierte sofort, und die Meldung verschwand umgehend. So etwas wirkt nämlich wehrkraftzersetzend. Genauso wie Bilder von der Arbeit des Tötens. Kein Schlachtfeld nirgends, weder in der Tagesschau noch anderswo. Darum steht zu fürchten, dass das alles noch länger dauern wird, mit all den katastrophalen Folgen.