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Die Zwangsverordnung

100 junge Brasilianerinnen müssen mit MIRENA verhüten

In Brasilien hat BAYERs Hormon-Spirale keine Zulassung für Frauen unter 18 Jahren. Bei 100 in Fürsorge-Einrichtungen untergebrachten Minderjährigen macht der Staat jedoch eine Ausnahme. Das stößt in dem lateinamerikanischen Land auf massive Kritik. Den Gerichten liegt mittlerweile sogar eine Klage gegen das Projekt vor.

Von Jan Pehrke
„Ich habe Mädchen im Alter von 12 oder 13 Jahren gesehen, die schwanger waren oder bereits Mütter, und wir wissen, welche Probleme das bereiten kann (...) Für diejenigen von ihnen, die in staatlichen Einrichtungen leben, ist es noch schlimmer, da sie sich in einer Situation extremer Verwundbarkeit befinden. Diese Partnerschaft gewährt ihnen jetzt sieben Jahr lang Schutz, so dass sie ihre Zukunft ohne das Risiko einer frühen Schwangerschaft planen können“, mit diesen Worten begrüßte die zuständige Staatsanwältin Dr. Cinara Vianna Dutra Braga den Plan, 100 in Fürsorge-Einrichtungen lebenden Minderjährigen aus Porto Alegre BAYERs Hormon-Spirale MIRENA zu implantieren. Eine entsprechende Kooperationsvereinbarung hatte der Leverkusener Multi mit der Staatsanwaltschaft, der Gemeinde und zwei Kliniken der Stadt geschlossen.
Damit setzten sich die Partner einfach über die Verordnungsvorschriften für Arzneien hinweg. Das Medizin-Produkt zur Langzeit-Verhütung – im Fachjargon auch Intrauterin-Pessar (IUP) oder Intrauterin-System (IUS) genannt – hat in Brasilien nämlich gar keine Zulassung für diese Altersgruppe. Die zuständige Kommission Conitec hatte sich im Jahr 2016 eindeutig gegen eine Genehmigung für 15- bis 19-Jährige ausgesprochen. „Wir sind der Ansicht, dass die vorgelegten wissenschaftlichen Nachweise nicht ausreichen, um die Überlegenheit der vorgeschlagenen Technologie gegenüber den schon vorhandenen Technologien zu demon-strieren“, hieß es in dem entsprechenden Bericht.
Auf entsprechend große Kritik stieß das Vorhaben. Einhellig protestierten der Landesrat für die Rechte von Kindern CEDICA, der Landesrat für Sozialunterstützung CEAS und ProfessorInnen der Universität des Bundesstaates Rio Grande do Sul (UFRGS) gegen die Maßnahme. „Zusammenfassend handelt es sich um eine weitere Strategie der Pharma-Industrie und ihrer Netzwerke, dem staatlichen Gesundheitssystem ihr hormonales IUP/IUS anzudienen“, so die Medizinerin Gabriela Godoy.
Gemeinsam mit ihren KollegInnen von der UFRGS hatte sie in einer Petition ethische, technische und wirtschaftliche Einwände gegen den Vorstoß formuliert. Die Hochschul-LehrerInnen bezeichneten es als moralisch bedenklich, das Medizin-Produkt gerade Minderjährigen aus prekären sozialen Verhältnissen, die unter staatlicher Vormundschaft stehen, einzusetzen. Diese Praxis erinnerte die ForscherInnen an die Bevölkerungspolitik unter der Militär-Diktatur, die mit derartigen Methoden versuchte, die gefährlichen Klassen möglichst kleinzuhalten. Das „geht auf die alte eugenische Politik der ‚Geburten-Kontrolle’ zurück, die in den 1960er und 1970er Jahren existierte“, konstatierten die WissenschaftlerInnen.
Nicht genug damit, dass die Verantwortlichen den Beschluss der Conitec ignorierten. Sie unterließen es zudem, die jungen Frauen über Risiken und Nebenwirkungen der MIRENA und über Alternativen zu informieren, monierten die ProfessorInnen. Sie kritisierten zudem den hohen Preis der Spirale. Die staatlichen Stellen haben sich zum Werkzeug der Vermarktungsstrategie des Leverkusener Multis machen lassen, so ihr Fazit.
Der Gemeinderat von Porto Alegre, diverse Gewerkschaften und andere Organisationen formulierten ihre Einwände in einem Offenen Brief. Sie warfen BAYER & Co. vor, ihre Kooperationsvereinbarung unter Umgehung der kommunalen politischen Gremien geschlossen zu haben. Darüber hinaus lasteten die VerfasserInnen des Schreibens dem Verbund an, die jungen Frauen zu Objekten zu degradieren und sie ihres Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung zu berauben. Wie die ProfessorInnen von der UFRGS machten auch sie in der Sozialauswahl der MIRENA-Kandidatinnen ein bevölkerungspolitisches Element aus und erinnerten an ein ähnliches Projekt mit Jugendlichen aus einem Armen-Viertel der Stadt, das nach massiven Protesten eingestellt werden musste.
BAYER wirkt an einer solchen Bevölkerungspolitik sonst vornehmlich auf dem Gebiet der Entwicklungshilfe mit. Nach der vom früheren US-Präsidenten Lyndon B. Johnson formulierten Devise „Fünf gegen das Wachstum der Bevölkerung investierte Dollar sind wirksamer als hundert für das Wirtschaftswachstum investierte Dollar“ bringt er etwa – mit freundlicher Unterstützung der „Bill & Melinda Gates Foundation“ – Millionen Einheiten seines Langzeit-Kontrazeptivums JADELLE an die afrikanische Frau. Aus Sicht der In-stitutionen besitzt es die gleichen Vorteile wie MIRENA. Es ist „provider controlled“, also von den Nutzerinnen nicht selbstbestimmt ein- bzw. abzusetzen, und service-freundlich, weil es jahrelang wirkt und so Kontrollen erspart.
Auch in Sachen „Nebenwirkungen“ geben sich die beiden Medizin-Produkte nicht viel, denn mit Levonorgestrel haben sie den gleichen Wirkstoff. MIRENA etwa kann Brustkrebs, Bauchkrämpfe, psychische Krankheiten, Seh-Störungen, Migräne und Kopfschmerzen auslösen. Ob das den jungen BrasilianerInnen aus Porto Alegre erspart bleibt, entscheiden jetzt die Gerichte. Die Initiative Themis hat nämlich Klage gegen die Zwangsverschreibung des Kontrazeptivums eingereicht. ⎜