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STICHWORT BAYER 02/2015
Heidi Klum: Werbung für Fußcreme von BAYER

Vitamine, Stärkungsmittel & Co.

BAYERs bunte Pillen

Der BAYER-Konzern wird massiv umgebaut. Zunächst beschloss der Vorstand die Übernahme der Sparte für freiverkäufliche Medikamente von MERCK, kurz darauf die Abspaltung des Teilkonzerns BAYER MATERIAL SCIENCE. Durch die Trennung vom Kunststoff-Bereich gibt das Unternehmen viele gefährliche Produktionsstätten ab. Doch auch die verschreibungsfreien Vitamine, Schmerzmittel und Allergie-Präparate, die für einen Umsatz von über vier Milliarden Euro sorgen, sind nicht immer harmlos.

Von Philipp Mimkes

Für 10,4 Milliarden Euro übernahm BAYER im vergangenen Jahr die Sparte mit rezeptfreien Arzneien vom US-Konkurrenten MERCK & CO. Durch den zweitgrößten Zukauf der Firmengeschichte steigt der Leverkusener Konzern zur Nummer zwei im Bereich OTC („Over The Counter“) auf.
MERCK machte 70 Prozent des Umsatzes in Nordamerika. BAYER möchte die neu erworbenen Marken global aufstellen und hiermit den OTC-Umsatz noch weiter auf über fünf Milliarden Euro steigern. Der Vorstandsvorsitzende Marijn Dekkers bejubelt denn auch den „Meilenstein auf unserem Weg zur angestrebten globalen Marktführerschaft“.
Schon zuvor hatte BAYER zahlreiche freiverkäufliche Medikamente im Angebot: PRIORIN gegen Haarausfall, Schmerzmittel wie ASPIRIN und ALEVE, die Wundcreme BEPANTHEN, Präparate gegen den „Kater“ wie ALKA SELTZER und BEROCCA, das Magenmittel RENNIE oder die Pilzcreme CANESTEN. Zudem gehört BAYER seit Jahren zu den führenden Vitamin-Herstellern. Wie lukrativ der OTC-Bereich ist, zeigt der Klassiker ASPIRIN: Obwohl Generikahersteller das Mittel für einen Bruchteil des Preises anbieten, nimmt der Pharma-Riese damit jährlich rund 900 Millionen Euro ein.
Durch den Zukauf kommen zahlreiche neue Mittel in das Portfolio: die Sonnencreme COPPERTONE, das Erkältungsmittel AFRIN, MIRALAX gegen Verstopfung und DR SCHOLL´S-Fußpflegeprodukte. Für den größten Gewinn dürfte das Allergiemittel CLARITIN sorgen, mit dem MERCK zuletzt einen Umsatz von 576 Millionen Euro machte. Und etwas Glamour bringt die Übernahme auch ins Haus: In den USA wirbt Topmodel-Mutter Heidi Klum für DR SCHOLL´S.

Die weltweite Nr.2
Weltweit werden jährlich etwa 200 Milliarden Dollar mit rezeptfreien Mitteln umgesetzt. Diese werfen zwar vergleichsweise wenig Gewinn ab, unterliegen jedoch geringeren behördlichen Auflagen und können frei beworben werden. Auch kommt es weit seltener zu Prozessen und Strafzahlungen als bei verschreibungspflichtigen Präparaten. BAYER hatte bereits 2004 die OTC-Sparte von ROCHE übernommen, und im letzten Jahr erwarb der Global Player neben den MERCK-Mitteln noch das chinesische Unternehmen DIHON, das Arzneien auf pflanzlicher Basis herstellt.
Durch die jüngsten Übernahmen steigt BAYER in Nord- und Südamerika zum führenden Anbieter rezeptfreier Medikamente auf. In zwei der fünf wichtigsten Segmente, Dermatologie und Magen-Darm-Erkrankungen, besetzt der Konzern sogar weltweit die Spitzenposition. Bei Nahrungsergänzungs-, Erkältungs- und Allergie-Präparaten rückt BAYER auf den zweiten Rang vor, im Bereich Schmerztherapie auf Platz drei.
Der OTC-Bereich besitzt für die Aktiengesellschaft eine strategische Bedeutung: Bei verschreibungspflichtigen Medikamenten sacken die Gewinne meist stark ab, wenn die Patentlaufzeit überschritten wird. Auch ist der Umsatz von einer stets gut gefüllten Produkt-Pipeline abhängig, wofür die Forschungslabore nicht immer sorgen können. Viele Medikamente bleiben auf der Test-Strecke und verbrennen so einen Haufen Geld. OTC-Produkte hingegen erwirtschaften planbare und weitgehend konstante Gewinne. Für die Risiko-Streuung hatte BAYER bislang die drei unterschiedlichen Säulen Pharma, Pestizide und Kunststoffe. Nun übernehmen ASPIRIN & CO. die Rolle der Plastik-Sparte.

Harmlosigkeit suggeriert
Längst nicht alle freiverkäuflichen Mittel sind ohne Risiken und Nebenwirkungen. So dämpft das Flaggschiff ASPIRIN zwar durchaus Schmerzen und eignet sich auch zur Blutverflüssigung, unverantwortliches Marketing und Bücher wie „Jeden Tag ein ASPIRIN“ fördern jedoch den übermäßigen und routinemäßigen Gebrauch - mit teils gravierenden Folgen: Der Wirkstoff vermag Schleimhaut-Reizungen, Blutungen und Magengeschwüre auszulösen. Nach einer Untersuchung der Universität Boston sterben jährlich 16.500 US-AmerikanerInnen an Magenblutungen, die durch ASPIRIN und ähnliche Schmerzmittel verursacht werden. Damit gehören ASPIRIN-Nebenwirkungen zu den 15 häufigsten Todes-Ursachen in den USA.
Kritisch ist auch das Schmerzmittel ALEVE (Wirksubstanz: Naproxen) zu bewerten. Bei einer längeren Einnahme steigert es das Risiko für Herzinfarkt, Schlaganfall oder andere Herz-Kreislauf-Krankheiten mit möglicher Todesfolge deutlich. Die US-amerikanische Medikamenten-Aufsicht „Food and Drug Administration“ (FDA) empfiehlt daher in einem „Warning Letter“, das Präparat keineswegs länger als zehn Tage einzunehmen und sich streng an die empfohlene Dosierung zu halten. Ob die Behörde damit durchdringt, bleibt allerdings fraglich, denn mit der Rezeptpflicht entfällt auch die ärztliche Kontrolle des Einnahme-Verhaltens.
Die beliebte Arznei RENNIE gegen Sodbrennen hat es ebenfalls in sich. Eine längere Einnahme kann zur Schädigung des Knochenbaus führen und das Risiko, an einer Lungenentzündung zu erkranken, erhöhen. WissenschaftlerInnen monieren daher die viel zu häufige Verwendung von RENNIE und ähnlichen Mitteln.

Unbekannte Risiken
Wegen ihrer freien Verfügbarkeit werden OTC-Medikamente oftmals falsch oder in zu großen Mengen eingesetzt. Ein Beispiel hierfür ist das Abführmittel MIRALAX, das durch die jüngste Übernahme in das BAYER-Portfolio gelangte. MIRALAX war bis zum Jahr 2006 verschreibungspflichtig. Der Inhaltsstoff, ein Polyethylenglykol, ist der FDA zufolge im Stande, neuropsychiatrische Störungen zu verursachen. Polyethylenglykol (PEG) besteht aus einer Verkettung von gesundheitsschädlichen Ethylenglykol-Molekülen. Das Risiko von PEG liegt darin, dass es im Körper in seine giftigen Einzelbestandteile zerfällt. Nach Aussage der FDA sind die Auswirkungen einer langfristigen Einnahme unbekannt, auch über Gesundheitsgefährdungen für Kinder gibt es keine Untersuchungen. Die Behörde erteilte daher nur für die Abgabe an Erwachsene und nur unter der Maßgabe einer höchstens einwöchigen Nutzung eine Zulassung.
Dennoch kommt MIRALAX in den USA massenhaft als Abführmittel zum Einsatz, gerade auch bei Kindern. In einer Untersuchung gaben 75 Prozent der KinderärztInnen an, das Präparat bereits empfohlen zu haben. Häufig werden Anwendungen über Jahre hinweg beobachtet, und einfache und risikolose Methoden wie die Umstellung auf ballastreiche Kost und mehr Flüssigkeitszufuhr unterbleiben.

Hauptmarkt USA
Viele der von MERCK übernommenen Arzneien bietet BAYER nur in den USA an, da die Selbstmedikation dort verbreiteter ist – und dementsprechend auch mehr Schädigungen durch Falsch- oder Überdosierungen auftreten. Ein Beispiel bildet der Säureblocker ZEGERID, dessen Wirkstoff Omeprazol die Produktion von Magensäure um bis zu 98 Prozent blockiert und so gegen Sodbrennen und Oberbauchschmerzen hilft. Bei Magengeschwüren hat das Präparat eine große Bedeutung. MedizinerInnen warnen jedoch vor einer dauerhaften Einnahme, da hierdurch das Risiko von Knochenbrüchen um die Hälfte ansteigen kann. Darüber hinaus vermögen Säurehemmer Infektionen mit bestimmten Bakterien zu begünstigen und gefährliche Durchfall-Erkrankungen auszulösen.
In den USA ist es den Herstellern dennoch gelungen, den Wirkstoff durch massive Werbung zu einem Alltagsprodukt zu machen, das schon bei geringsten Beschwerden oder sogar prophylaktisch eingesetzt wird.
Und auch in Deutschland nehmen viele PatientInnen den Wirkstoff über lange Zeiträume ein. Hierzu trägt nicht zuletzt die verharmlosende Bezeichnung „Magenschutz“ bei, die Sicherheit suggeriert und vergessen macht, dass die Magensäure eine wichtige Rolle für die Verdauung und Infekt¬-Abwehr spielt.
Ein ähnlich großes Risiko geht von OXYTROL aus, einem Mittel gegen Blasenschwäche. Seit 2013 ist das Präparat in den USA für Frauen frei erhältlich, obwohl die Kontraindikationen auf sein Gefährdungspotenzial verweisen. So sollte der Wirkstoff Oxybutynin nicht bei Leber- oder Nierenschwäche, verengten Blutgefäßen, hohem Blutdruck und keinesfalls in der Schwangerschaft eingesetzt werden. Jüngste Studien bringen den Wirkstoff sogar mit Demenz und Alzheimer in Verbindung. ÄrztInnen warnen daher vor einer freien Verfügbarkeit des Mittels.

Hohe Strafzahlungen
Unüberschaubar ist das BAYER-Angebot an Vitamin-Präparaten und Nahrungsergänzungsmitteln: SANATOGEN, SUPRADYN, BEROCCA, CAL-D-VITA, ELEVIT, REDOXON und viele mehr. Allein unter dem Markennamen ONE-A-DAY verkauft BAYER Dutzende unterschiedlicher Pillen – für jede Altersklasse und jede Bevölkerungsgruppe. Je nach Zusammensetzung werden ONE-A-DAY-Präparate für Frauen, Männer, Übergewichtige, SportlerInnen, SeniorInnen, Teenager, Personen mit erhöhtem Cholesterinspiegel, zur Stärkung der Immunabwehr und zu vielem anderen mehr angeboten. Die Pillen enthalten obskure Mischungen aus Vitaminen, Mineralien, Folsäure, Ginseng, Koffein, Jod, Guarana, Kupfer, Eisen oder sogar Schwermetallen.
ErnährungsmedizinerInnen weisen darauf hin, dass bei einer ausgewogenen Ernährung keine Vitamin-Cocktails notwendig sind. Und in manchen Fällen ist die Zufuhr von Nahrungsergänzungsmitteln nicht nur wirkungslos, sondern sogar gefährlich. Die COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN fordert daher eine Verschreibungspflicht und unabhängig erbrachte Wirksamkeitsnachweise für Nahrungsergänzungsmittel.
Ein besonderes Problem stellt die Vermarktung obskurer Vitamin-Cocktails wie BAYER´S TONIC in Ländern des Südens dar. Dort haben die Menschen oftmals nicht das Geld, um sich den Besuch eines Arztes leisten zu können. Die Pharma-Riesen bieten daher Allheilmittel mit diffusem Wirkprofil an. Die Werbung verleitet viele Eltern dazu, das teure, trotz seines Alkohol-Gehalts speziell zur Kräftigung von Kindern angepriesene Mittel zu verabreichen - eine sinnvolle Behandlung sowie der Kauf von Obst und Gemüse unterbleiben.
Die ONE-A-DAY-Produktreihe bewirbt der Pillen-Gigant mit Versprechungen wie „für ein gesundes Immunsystem“, „verarbeitet Nahrung zu Energie“, „für geistige Wachsamkeit“ oder „unterstützt die Gesundheit des Herzens“. Für kaum eines dieser Versprechen liegt ein Wirkungsnachweis vor. Schon mehrfach gingen die Aufsichtsbehörden deshalb gegen unbelegte Werbe-Aussagen vor: So zahlte BAYER 3,3 Millionen Dollar für die Behauptung, dass die Zusätze Selen und Zink das Prostatakrebs-Risiko senken können. Im Jahr 2007 wurde gegen den Konzern die damalige Rekordstrafe von 3,2 Mio Dollar wegen „irreführender Versprechungen“ bezüglich des Wirk-Potenzials der Diätpille ONE-A-DAY WEIGHT SMART verhängt. Angesichts jährlicher Umsätze von mehreren hundert Millionen Euro – bei vernachlässigbaren Produktionskosten – geht von den Bußgeldern jedoch keine erzieherische Wirkung aus.

Wurzeln gekappt
Bereits 2004 hatte BAYER das Geschäft mit Chemikalien, Lacken und einigen Kunststoffen abgestoßen. Ende 2014 beschloss der Vorstand nun die lang erwartete Trennung von der Sparte MATERIAL SCIENCE (SWB berichtete). BAYER, einst als Chemie-Firma bekannt, wandelt sich dadurch zum reinen Pharma- und Agrokonzern.
Unter dem Dach von MATERIAL SCIENCE befinden sich zahlreiche hochgefährliche Anlagen, darunter die Produktion der Kunststoffe Polyurethan und Polycarbonat. Hierbei kommen jährlich hunderttausende Tonnen toxischer Stoffe wie Chlor, Ammoniak, Kohlenmonoxid und sogar des ehemaligen Kampfgases Phosgen zum Einsatz.
Durch die Abspaltung gehen von den BAYER-Fabriken künftig weniger Risiken aus. Auch die Emission von Treibhausgasen, der Ressourcenverbrauch und der entstehende Müll werden reduziert. Dies ist für die Umwelt jedoch nur bedingt ein Erfolg, da die Anlagen lediglich den Besitzer wechseln. Und bei BAYER verlagern sich die Probleme noch mehr zu den Produkten: zu Pestiziden, genmanipuliertem Saatgut sowie zu überflüssigen oder gefährlichen Pharmazeutika. Und der OTC-Bereich könnte sogar noch Zuwachs bekommen. „Wir streben weiterhin ergänzende Zukäufe und Allianzen an, wenn sich geeignete Möglichkeiten dazu ergeben“, drohte Ober-BAYER Marijn Dekkers auf der Bilanzpressekonferenz Ende Februar 2015 an.