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[30 Jahre Bhopal] STICHWORT BAYER 04/2014

CBG Redaktion

30 Jahre Bhopal

Die endlose Katastrophe

Am 3. Dezember 1984 ereignete sich im indischen Bhopal die bisher größte Chemie-Katastrophe der Menschheitsgeschichte. Ein Tank mit Methylisocyanat explodierte, und eine riesige Giftwolke legte sich über die Stadt. Tausende fielen ihr gleich zum Opfer; Zehntausende erlagen den Spätfolgen. Und noch immer geht das Sterben weiter, denn eine Sanierung des Geländes unterblieb. Bhopal ist also alles andere als ein abgeschlossenes Kapitel, noch dazu können jederzeit neue hinzukommen, wie zuletzt der Fall „Fukushima“ gezeigt hat. Gelernt haben BAYER & Co. aus dem Super-GAU nämlich nichts: Die Konzerne ordnen die Sicherheit weiterhin rücksichtslos dem Profitstreben unter.

Von Jan Pehrke

Wann immer es heutzutage zu einer verheerenden Explosion auf einem Fabrik-Gelände kommt und die Menschen nach einem Gradmesser des Schreckens suchen, fällt das Wort „Bhopal“. Die Menschen, welche die Katastrophe am 3. Dezember 1984 selber miterlebten, hatten auch das Bedürfnis, Vergleiche zu finden, um das Unfassbare ein wenig fasslicher zu machen und assoziierten noch Apokalyptischeres. „Ich dachte, eine Chemie-Bombe wäre hochgegangen, irgendjemand hatte das irgendwann schon einmal gesehen, Hiroshima … plötzlich war es real“, so beschrieb der Inder Ashay Chitre die Ereignisse. Und es dauerte nicht lange, bis er die Auswirkungen am eigenen Leib spürte: „Irgendetwas Unsichtbares gelangte in den Raum. Meine Augen begannen zu brennen und zu tränen. Ich brauchte Luft …“
Von Quatl-ki-raat – der Nacht des Massakers – sprachen die InderInnen später. Wie viele Personen ihr direkt zum Opfer fielen, darüber gehen die Angaben auseinander. Die Schätzungen reichen von 3.500 bis 15.000 Toten binnen der ersten drei Tage – offizielle Zahlen wurden nie erhoben. Die Spätfolgen rafften noch einmal mindestens 20.000 Menschen dahin. Und das Sterben geht weiter. Weil nie eine Sanierung des Firmengeländes stattgefunden hat, gelangen nach wie vor gefährliche Substanzen in Boden und Grundwasser und vergiften die BewohnerInnen des unmittelbar an das Areal angrenzenden Armenviertels. Vor allem an Atemwegserkrankungen, aber auch an Krebs oder bis zur Blindheit führenden Sehstörungen leiden sie. Diese AnwohnerInnen haben Bhopal mittlerweile in den Genen und geben die Schädigungen auch an ihre Kinder weiter. So perpetuiert sich das Desaster von Generation zu Generation.
Seinen Anfang nahm es in einem Pestizid-Werk des US-Unternehmens UNION CARBIDE CORPORATION. Wasser sickerte in einen mit der Chemikalie Methylisocyanat (MIC) gefüllten Tank ein und löste eine chemische Reaktion aus. Dabei erhöhte Kohlendioxid den Innendruck so stark, dass das Behältnis explodierte. 25 bis 40 Tonnen MIC und andere Reaktionsprodukte bildeten eine Giftwolke, die sich über das Elendsquartier legte.
BAYER als Hersteller von MIC besaß umfassende Informationen über die Wirkung der Substanz auf den menschlichen Organismus. Deshalb forderten die indischen Behörden den Chemie-Multi auf, den HelferInnen dieses Wissen zur Verfügung zu stellen, um Menschenleben zu retten. Aber der Konzern blockte ab. Er schickte zwar ExpertInnen nach Bhopal, betrachtete das Katastrophengebiet aber lediglich als riesiges Freiland-Labor für eigene Studien. Ashay Chitre empörte sich über solche ForscherInnen: „Ich bin zu vielen Ärzten und Wissenschaftlern gegangen, und jeder wollte seine Hand auf mich legen, weil ich ein Opfer bin, nicht aber, weil er mir helfen wollte. Das Opfer als Versuchskaninchen“.

Katastrophe mit Ansage
Um höhere Gewalt handelte es sich bei der Methylisocyanat-Freisetzung nicht. „Es war eine Katastrophe mit Ansage“, sagt mit T. R. Chouhan einer, der es wissen muss: Er hat nämlich als Ingenieur in der Fabrik gearbeitet. Ihm zufolge hat die Anlage von Beginn an nicht den gängigen Schutz-Anforderungen entsprochen. Und als der Absatz der MIC-Pestizide zurückging und sogar eine Schließung des Werkes auf der Tagesordnung stand, fuhr der Konzern die Präventionsmaßnahmen sogar noch weiter zurück – Sicherheit nach Geschäftslage also.
Die von Chouhan, der sich heute für die Bhopal-Opfer engagiert, und anderen erstellte Mängelliste umfasst unzählige Punkte. UNION CARBIDE entließ Personal, vernachlässigte die Sicherheitsausbildung und verlängerte die Wartungsintervalle. Reparaturbedürftige Edelstahl-Teile ersetzte das Unternehmen kurzerhand durch solche aus einfachem Stahl. Zudem verwendete es minderwertiges MIC und überfüllte die Tanks, was beides die fatale chemische Reaktion noch zusätzlich anheizte. Natronlaugen-Wäscher und Gasfackel – Vorrichtungen, die im Falle eines Falles austretendes Gas neutralisieren sollten – waren zum Zeitpunkt der Katastrophe abgeschaltet oder nicht funktionstüchtig. Auch das separate Kühlsystem war nicht betriebsbereit.
Nach dem Super-GAU stand dann die gesamte Chemie-Produktion auf dem Prüfstand. UNION CARBIDE musste sich beispielsweise sofort drängende Fragen zum Bhopal-Schwesterwerk im US-amerikanischen Institute gefallen lassen. Das Unternehmen beschwichtigte umgehend. Die beiden Anlagen seien nicht zu vergleichen, weil es am US-Standort automatisierte Kontrollen, Chloroform- statt Wasserkühlung, für reines MIC sorgende Zwischentanks und besser ausgebildetes Personal gebe, erklärte die US-Firma. Dass der Konzern dabei so en passant zugab, eine Politik der doppelten Standards zu betreiben – schon bei der Entscheidung, in Bhopal eine Fertigungsstätte aufzubauen, hatten die niedrigeren Sicherheitsanforderungen eine wesentliche Rolle gespielt – nahm er als kleineres Übel billigend in Kauf. Aber auch der Leverkusener Multi sah sich in Sachen MIC-Herstellung zu einer Stellungnahme gezwungen. „Die BAYER AG verwendet ein völlig anderes Produktionsverfahren“, verlautete aus der Konzern-Zentrale. Als „vertrauensbildende Maßnahme“ verschickte er zusätzlich „Fakten zur Produktion von Methylisocyanat“ an über 200 Zeitungen, Zeitschriften, Agenturen und TV-Sender. Das Bundesumweltministerium ließ sich durch solche und andere propagandistische Manöver der Branche nicht so leicht überzeugen. Es schätzte die Gefahrenlage bei den Unternehmen – zumindest intern – anders ein. „Chemie-Anlagen mit einem Gefahren-Potenzial wie in Bhopal gibt es in der Bundesrepublik zu Hunderten“, zitierte das Magazin Natur aus einem vertraulichen Papier der Behörde.

Die Aktionen der CBG
Die COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN (CBG) meldete ebenfalls gleich erhebliche Zweifel an den Beteuerungen der Big Player an. Gegründet nach einem verheerenden Salzsäure-Unfall in Wuppertal, wusste die Initiative nur zu gut um die „BAYER-Gefahren“, die von einer profitgetriebenen Chemie-Produktion ausgehen. Darum startete die CBG umgehend Initiativen. Vorständler Axel Köhler-Schnura nahm beispielsweise Mitte Dezember 1984 an einer Pressekonferenz mehrerer Organisationen zu „Bhopal ist überall“ teil, wo er BAYER zufolge „Falschmeldungen zur MIC-Produktion“ verbreitete, was nicht ohne Folgen blieb. „Am 13. Dezember übernahm die Abgeordnete der ‚Grünen‘, Antje Vollmer, fast wörtlich die Köhler-Falschmeldung in einer ‚Aktuellen Stunde‘ des Bundestages“, beklagte sich der Konzern. Zum ersten Jahrestag der Explosion hielt die CBG dann Mahnwachen vor den BAYER-Werken ab.
Und auch in den folgenden Jahren vergaß die Coordination Bhopal nicht. So hat sie 1994 gemeinsam mit dem BUND in Köln die Konferenz „Bhopal – 10 Jahre danach“ abgehalten. Außerdem veröffentlichte das Netzwerk zusammen mit dem BUND und dem PESTICIDES TRUST den Aufruf „Bhopal mahnt“, den rund 300 Organisationen und Einzelpersonen unterzeichneten. „Schluss mit der einzig den Profiten verpflichteten Sicherheitslüge der Chemie-Konzerne“ lautete eine der Forderungen. Zudem verlangten die Gruppen die Stilllegung besonders gefährlicher Werke, den Stopp der doppelten Standards sowie mehr Transparenz und eine größere Unterstützung der Opfer der Katastrophe.
Im selben Jahr reiste Axel Köhler-Schnura auch zu den Verhandlungen des „Permanent Peoples` Tribunal“ nach London. Dieser unabhängige internationale Gerichtshof hatte sich als Nachfolge-Gremium des Russell-Tribunals seit 1991 mit Bhopal beschäftigt und die von der Industrie-Produktion ausgehenden Gefährdungen generell zum Thema gemacht. Zur „Beweisaufnahme“ konnte die Coordination viel beitragen. „Die CBG ist Zeugin einer endlosen Kette von Fällen, in denen BAYER-Gefahren Menschen und Umwelt den Tod brachten durch Unfälle, normale tägliche Produktion, Abfälle und nicht zuletzt durch chemische und biologische Waffen“, konstatierte der Aktivist in seiner Rede und nannte als damals aktuelles Beispiel die HIV-verseuchten Blutprodukte des Leverkusener Multis. Aus solchen von Köhler-Schnura und anderen vorgetragenen Kapital-Verbrechen zog das „Permanent Peoples` Tribunal“ dann einen Schluss: Es gilt, den Schutz vor Industrie-Gefahren als ein Menschenrecht zu verankern. Und so präsentierten die JuristInnen zum Ende der Konferenz den Entwurf einer entsprechenden Charta.
Die Coordination beteiligte sich anschließend auch an der Ausarbeitung und brachte die Endfassung 1996 unter dem Titel „Menschenrechte und Industrie-Gefahren“ zweisprachig heraus. 39 Artikel umfasste die Charta schließlich. Unter anderem proklamierte die Schrift das Recht auf ein gefahrenfreies Arbeits- und Lebensumfeld, das Recht, Unternehmen für ihre Geschäftspolitik zur Verantwortung zu ziehen, das Recht zur Durchsetzung von Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften sowie das Recht auf Ablehnung gefährlicher Produktionsanlagen.

Bhopal/Institute
Fünf Jahre später musste sich die COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN dann noch direkter mit Bhopal und den Folgen auseinandersetzen, denn das Schwester-Werk der in Indien hochgegangenen Produktionsanlage gelangte in den Besitz BAYERs. Nun hatte es zwar gleich nach der Chemie-Katastrophe geheißen, die MIC-Produktion in Institute laufe ganz anders ab und in Teilen stimmte das sogar, aber die Fertigungsstätte wies noch genug gefährliche Familien-Ähnlichkeiten auf. Allein zwischen 1979 und 1984 traten 190 Leckagen auf; 28 Mal gelangte dabei MIC ins Freie. Zum größten Knall kommt es am 28. August 2008. Zwei Menschenleben forderte er. Von „Schockwellen wie bei einem Erdbeben“ sprachen AugenzeugInnen. „Die Explosion in dem BAYER-Werk war besonders beunruhigend, weil ein mehrere Tonnen wiegender Rückstandsbehälter 15 Meter durch das Werk flog und praktisch alles auf seinem Weg zerstörte. Hätte dieses Geschoss den MIC-Tank getroffen, hätten die Konsequenzen das Desaster in Bhopal 1984 in den Schatten stellen können“, hieß es später in einem Untersuchungsbericht des US-Kongresses.
Nicht umsonst hat deshalb die „International Campaign for Justice in Bhopal“, 2009 auf ihrer Bustour zum Gedenken an „25 Jahre Bhopal“, nicht nur am BAYER-Stammsitz Leverkusen, sondern auch in Institute Station gemacht. Und für die AktivistInnen aus Indien war es eine ganz besondere Begegnung. „Das war einer unserer seltenen Stopps in den USA, wo wir einen anderen betroffenen Ort besuchten. Es war sehr bewegend und schockierend zu sehen, dass aus dem Bhopal-Desaster nicht gelernt wurde (…) Festzustellen, wie dicht die Fabrik an die Wohnsiedlungen heranreicht, hat uns alle sehr deprimiert“, sagte Rachna Dhingra damals in einem SWB-Interview.

Kostenfaktor Sicherheit
Aber nicht nur über Institute weht der Geist von Bhopal. Die Unfallliste, welche die Coordination seit Anfang der 1990er Jahre systematisch führt, wächst Jahr um Jahr. Allein für 2013 weist sie zehn Einträge auf. Am US-amerikanischen Standort Muskegon und in Wuppertal trat Methanol aus, in Kansas Ammoniak und in Krefeld Salzsäure. Im indischen Vapi gelangte underdessen Chlorwasserstoff ins Freie. Zweimal lief der Flüssigklebstoff DESMODUR aus; ebenfalls zweimal floss auf Seetransporten das Kunststoff-Vorprodukt Polyol ins Meer. Und auf dem Gelände des chinesischen BAYER-Standorts Chengdu schließlich entzündete sich ein Behälter, der mit der gesundheitsschädlichen Chemikalie Isoamylacetat gefüllt war.
Eine Aussicht auf Besserung gibt es nicht. Der Konzern betrachtet die Störfälle einfach als Risiken und Nebenwirkungen der Betriebsabläufe. Sicherheit ist für ihn immer nur relativ – eine von der Profit-Kalkulation abhängige Variable. Wenn der neueste Stand der Technik zu viel kostet, dann greift das Unternehmen zur billigeren Variante. Verbesserungen traten deshalb bisher nur ein, wenn Druck von Seiten der Öffentlichkeit kam. So wollte der Leverkusener Multi selbst nach der Schreckensnacht vom 28. August 2008 die Methylisocyanat-Herstellung in Institute nicht einstellen. Erst eine Klage der Initiative „People concerned about MIC“ führte zum Produktionsstopp.
Exemplarisch zeigt sich diese Abwehrhaltung bei der Konzipierung von neuen Projekten. Vehement weigerte BAYER sich, die jüngst in Dormagen errichtete TDI-Anlage mit einer Beton-Ummantelung zu schützen und den Abstand zu Wohnsiedlungen und Verkehrseinrichtungen zu vergrößern, obwohl im Fertigungsprozess das gefährliche Giftgas Phosgen zur Anwendung kommt. Nur dank des Engagements der Coordination und anderer Initiativen machten die Behörden dem Global Player dann wenigstens zur Auflage, Detektoren aufzustellen, die bei einem Gas-Austritt anschlagen, und an der S-Bahn-Station „Dormagen BAYER-Werk“ einen Schutzraum einzurichten. Am Skandalösesten zeigt sich die Ignoranz des Pharma-Riesen gegenüber Sicherheitsbedenken jedoch bei der Kohlenmonoxid-Pipeline. Trotz massiver Proteste, Verfassungsbedenken des Münsteraner Oberlandesgerichtes (siehe Seite 6/7) und einfach zu realisierenden Alternativen hält er unverdrossen daran fest, ein tödliches Gas auf einer Strecke von 66 km quer durch Nordrhein-Westfalen leiten zu wollen.
Wenn die Geschichte von Bhopal nicht nur eine von Bhopal ist, „sondern eine von Unternehmen, die von Gier und Profiten getrieben sind und diese über das Leben von Menschen und die Umwelt stellen“, wie die Aktivistin Rachna Dhingra meint, dann ist BAYER unverbrüchlich Teil dieser Geschichte. Und dann kann sich diese Geschichte, solange die Rendite-Jagd fortbesteht, auch jederzeit wiederholen. Die vorerst letzte Lektion dieser Art hat Fukushima erteilt.