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Greenpeace Magazin

22. April 2015, Greenpeace Magazin

100. Jahrestag

Der wabernde Tod

Am 22. April 1915 setzte Deutschland erstmals in großem Stil Giftgas ein, mehr als tausend allierte Soldaten starben. 100 Jahre später ist das Ziel einer giftgasfreien Welt nähergerückt, aber noch nicht erreicht.

Es war der erste große Giftgasangriff der Geschichte: Soldaten des Deutschen Kaiserreichs öffneten am 22. April 1915 um 17 Uhr beim belgischen Dorf Ypern 5700 Flaschen mit Chlorgas. Die giftigen Schwaden trieben auf die französischen, algerischen, kanadischen und britischen Truppen der Allierten zu. Mehr als tausend Menschen starben, 4000 wurden schwer verletzt.

Zum 100. Jahrestag des schrecklichen Angriffs ruft die Organisation „Green Cross“ dazu auf, eine Welt ohne Chemiewaffen zu schaffen. „Der 22. April ist ein ernster Tag, an dem wir nicht nur den Tausenden, die durch chemische Kriegsführung getötet wurden, gedenken sollen“, sagte Dr. Paul Walker, Programmdirektor bei Green Cross International, der 2013 mit dem Alternativen Nobelpreis geehrt wurde. „Es ist auch ein Tag, um unseren Einsatz für das Chemiewaffenübereinkommen weiter zu verstärken, um endlich das Ziel einer chemiewaffenfreien Welt zu erreichen.“

Diesem Ziel ist die Welt seit Inkrafttreten des Chemiewaffenübereinkommens 1997 schon sehr viel näher gekommen. Die Organisation für das Verbot Chemischer Waffen (OPCW) in Den Haag konnte die Vernichtung von 63.600 Tonnen chemischer Kampstoffe oder 87 Prozent der deklarierten Mengen verifizieren. Nur Russland (5200 Tonnen) und die USA (2800 Tonnen) haben noch größere Chemiewaffenlager. Kleine Lager mit giftigen Industriechemikalien aus vergangenen Waffenprogrammen werden zurzeit in Syrien (19 Tonnen) und Libyen (850 Tonnen) zerstört. Im Irak sollen unbrauchbare Überreste chemischer Waffen vernichtet werden.

Das Green Cross fordert nun die vollständige Vernichtung der verbleibenden Chemiewaffenbestände dieser fünf Länder. Darüber hinaus solle auf den Beitritt der verbliebenem sieben Nicht-Mitgliedsstaaten hingearbeitet werden – Angola, Nordkorea, Ägypten, Israel, Myanmar, Palästina und der Südsudan. So würde das Chemiewaffenübereinkommen im wahrsten Sinne des Wortes „universell“. Bei der Beseitigung der Kampfstoffe spielen deutsche Spezialisten eine zentrale Rolle: In einer Anlage in der Lüneburger Heide haben sie syrische Giftgasbestände zerstört. Bis heute arbeiten sie an der Vernichtung von Giftgas-Reste aus dem Ersten Weltkrieg.

Die Coordination gegen Bayer-Gefahren (CBG) fordert den Chemiekonzern Bayer auf, sich seiner Mitverantwortung für die Giftgas-Angriffe im Ersten Weltkrieg zu stellen. Bayer hatte im Frühjahr 1915 rund 700 Tonnen Chlorgas an die Front geliefert, so die konzernkritische Organisation. Kurz nach Kriegsbeginn war eine Kommission ins Leben gerufen worden, die sich mit der Nutzung giftiger Abfallstoffe der Chemie-Industrie zu Kriegszwecken beschäftigte – und die dem damaligen Generaldirektor von Bayer Carl Duisberg sowie dem Chemiker Walter Nernst unterstellt war.

Die Kommission empfahl der Heeresleitung zunächst die Nutzung von Chlorgas. Unter Duisbergs Leitung wurden bei Bayer immer giftigere Kampfstoffe entwickelt, zunächst Phosgen und später Senfgas. In Briefen an die Oberste Heeresleitung forderte er vehement deren Einsatz: „Die einzig richtige Stelle aber ist die Front, an der man so etwas heute probieren kann und auch für die Zukunft nicht sobald wieder Gelegenheit hat, so etwas auszuprobieren. Ich kann deshalb nur noch einmal dringend empfehlen, die Gelegenheit dieses Krieges nicht vorübergehen zu lassen“.

Vom damaligen Generaldirektor Duisberg, der auf den Auslieferungslisten der Alliierten stand und eine Anklage als Kriegsverbrecher fürchten musste, habe sich Bayer bis heute nicht distanziert, kritisert die CBG. In Dortmund und Lüdenscheid wurden kürzlich Carl-Duisberg-Straßen wegen dessen Verantwortung für Giftgas-Einsatz und Zwangsarbeit umbenannt. Entsprechende Verfahren laufen auch in Bonn, Frankfurt, Dormagen und Marl.
Wolfgang Hassenstein

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