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Brasilien

Offener Brief an Carl Goerdeler, Autor des Artikels „Expansion im Blick“, erschienen im Bayer Report 1/2008 (s.u.)

Sehr geehrter Herr Goerdeler,

wir haben Ihren Artikel zum 50. Geburtstag des Bayer-Werks Belford Roxo gelesen. Wir waren verwundert, wie konsequent darin alle negativen Begleiterscheinungen der Werksgeschichte ausgeblendet wurden.

So kam und kommt es in der Fabrik immer wieder zu schweren Störfällen – zuletzt im Januar 2007, als eine Produktionsanlage des hochgiftigen Pestizids Methamidophos explodierte und drei Mitarbeiter verletzt wurde. Der Knall war in einem Umkreis von fünf Kilometern zu hören, der ausströmende Gasgeruch verursachte bei vielen Anwohnern Übelkeit. Die Produktion musste mehrere Wochen lang eingestellt werden.

Schlimmer noch war die Situation in den 90er Jahren, als innerhalb von sechs Jahren acht Beschäftigte des Werks starben. Drei Arbeiter starben an Verätzungen mit Schwefelsäure, darüber hinaus gab es Kontaminationen mit Phosgen, Chrom und hochtoxischen Phosphorsäureestern. Im Mai 1992 traten bei einer unkontrollierten Reaktion in einem Desmodur-Reaktor große Mengen Chemikalien aus und zogen in die umliegenden Wohnbezirke. Eine darauffolgende Inspektion enthüllte eine ganze Reihe betrieblicher Mängel, die den Unfall mitverursacht hatten.

Mit einer solch hohen Zahl von Verletzten und Toten kann selbst das 20x größere Werk in Leverkusen nicht aufwarten. Auf die gravierenden Sicherheitsmängel in Verbindung mit damals fehlenden Alarmplänen und Schutzvorschriften machte bereits 1986 ein Vertreter der Werksfeuerwehr, Paolo Morani, auf Einladung kritischer BAYER-Aktionäre in der Hauptversammlung von BAYER aufmerksam (weitere Informationen zur mangelnden Arbeitssicherheit in Belford Roxo finden Sie in einem Leserbrief deutscher Gewerkschafter an die FAZ unter: http:www.cbgnetwork.org/2475.html).

Ein weiteres Problem des Werks Belford Roxo ist der hohe Schadstoff-Ausstoß. Messungen von Greenpeace zeigen, dass die Werte von PCBs, Pestiziden sowie Schwermetallen im Abwasser stark erhöht sind. Hinzu kommen die Emissionen der Müllverbrennungsanlage (siehe hierzu: http:www.greenpeace.de/fileadmin/gpd/user_upload/themen/wirtschaft_und_umwelt/umweltverbrechen_multinationaler_konzerne.pdf).

Apropos Pestizide: in Brasilien kommen bis heute BAYER-Wirkstoffe der höchsten Gefahrenklasse zum Einsatz (WHO Klasse Ia „extremely hazardous“), obwohl der Konzern schon vor 12 Jahren versprochen hat, alle Klasse-I Pestizide vom Markt zu nehmen. Immer wieder kommt es zu Vergiftungen. Eine Reportage zu tödlichen Vergiftungen mit dem BAYER-Pestizid Baysiston im brasilianischen Kaffee-Anbau finden Sie unter: http:www.cbgnetwork.org/Ubersicht/Zeitschrift_SWB/SWB_1999/SWB01_99/Kaffee_-_Brasilien/kaffee_-_brasilien.html

Anders als in Ihrem Heile-Welt-Artikel dargestellt, gaben BAYER und BASF ihren brasilianischen Beschäftigten erst nach langen Protesten die Möglichkeit, eine betriebliche Interessensvertretung mit minimalen Rechten zu wählen. Schlimmer noch war die Situation in den 80er Jahren zur Zeit der Militärdiktatur: Ein Streik in Belford Roxo wurde mit Hilfe der Militärpolizei beendet, die Gewerkschaftsführer wurden entlassen. Erst eine Solidaritätskampagne in Brasilien und Deutschland erzwang ihre Wieder-Einstellung.

Ist zu erwarten, dass Sie über all dies im Bayer Report hätten berichten können? Nein. Darum wäre von einem ernstzunehmenden Journalisten, der in der ZEIT und der FR veröffentlicht, zu erwarten gewesen, dass er einen solchen Auftrag nicht annimmt.

Für Rückfragen zur Geschäftstätigkeit von BAYER – in Brasilien und anderswo – stehen wir gerne zu Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen,

Philipp Mimkes
Coordination gegen BAYER-Gefahren

Expansion im Blick
Brasilien: 1958 errichtete Bayer in der Nähe von Rio de Janeiro seinen ersten Chemiekomplex in Brasilien. Heute ist der Industriepark von Belford Roxo der größte Arbeitgeber der 500.000-Einwohner-Stadt. Und das soll auch in Zukunft so bleiben

Früher war hier nur grüne Wiese.“ Flavio Abreu blickt über das Werksgelände und weist in die Ferne. Abreu ist Leiter des Bayer-Standorts Belford Roxo, 45 Kilometer außerhalb Rio de Janeiros. Und wenn er „früher“ sagt, dann meint er die Zeit vor 50 Jahren, als es allenfalls ein paar Landwirte in der Region gab. Aus der grünenWiese ist inzwischen nicht nur ein Industriepark mit rund 2.000 Beschäftigten entstanden, sondern eine Stadt mit einer halben Million Einwohner.
1993 wurde aus dem einstigen Außenbezirk der heutigen Nachbarstadt Nova Iguaçú die Stadt Belford Roxo.
Die Entwicklung ist beispielhaft für die gesamte Baixada Fluminense (von Flüssen durchzogene Tiefebene) oder einfach nur Baixada, wie die Einheimischen dieses Hinterland der einstigen Hauptstadt Rio de Janeiro nennen.
Die Veränderung begann, als der ehemalige Staatspräsident Juscelino Kubitschek in den 1950er-Jahren beschloss, aus dem Agrarstaat Brasilien eine Industrienationwerden zu lassen.
Innerhalb von fünf Jahren wollte er das Land ein halbes Jahrhundert nach vorne bringen. In die Zeit des Aufbruchs fiel nicht nur der Ausbau von Brasilia zur neuen Hauptstadt, sondern auch die Ansiedlung internationaler Konzerne. Mit dabei: Bayer. Das Unternehmen erkannte die Bedeutung des brasilianischen Marktes. Bei der Wahl des Standorts für eine große Produktionsstätte vor Ort entschied sich das Unternehmen für Belford Roxo.
Der damals ländliche Bezirk bestach durch seine Lage direkt an der bereits gebauten Via Dutra, der Autobahn von Rio nach São Paulo. Zu der Zeit besaß der Konzern mit seinen Produkten längst einen guten Ruf in dem südamerikanischen Land.
Schon Ende des 19. Jahrhunderts hatte Bayer eine Handelsvertretung, 1911 sogar eine eigene Gesellschaft gegründet. In den 20er-Jahren kam dann der Slogan „Se é Bayer é bom“ auf, der das Image des Unternehmens auf den Punkt brachte: Wenn es von Bayer ist, ist es gut. Eine Aussage, die selbst im abgelegenen Amazonien zum stehenden Begriff wurde. Ob in Orangenhainen, auf Kaffeeplantagen oder in Maniokfeldern – überall im Land war das
Bayer-Kreuz präsent.
Und dann also noch eine eigene Produktion.
Am 10. Juni 1958 war es so weit: Das Werk in Belford Roxo wurde offiziell eingeweiht. Ein perfekter Zeitpunkt. Das Land setzte gerade zu einem ökonomischen Steilflug an. Die Textilindustrie brauchte Farbstoffe, die Lederbetriebe verlangten nach Gerbstoffen und Polituren, und in der Landwirtschaft benötigte man Pflanzenschutzprodukte.
Bayer in Belford Roxo produzierte all dies. Später folgte der Boom der Autoindustrie, und auch diese wurde von Bayer gut versorgt.
Infolge dieses industriellen Aufschwungs zog es immer mehr Menschen in die Baixada. Ein wahrer Immobilienboom
setzte ein. Heerscharen von Menschen siedelten sich an, in der Hoffnung auf einen Job. Möglichst bei Bayer: Wer es auf die Gehaltsliste des deutschen Unternehmens schaffte, brachte gutes Geld nach Hause.
Bis heute ist der Parque Industrial Bayer, wie das Werk inzwischen heißt, die bedeutendste Produktionsstätte des Konzerns in Lateinamerika. Dort betreiben Bayer CropScience (BCS) und Bayer MaterialScience (BMS) ihre Anlagen. Die Teilkonzerne versorgen zumTeil ganz Lateinamerika mit ihren Produkten. So liefert BCS zum Beispiel Pflanzenschutzmittel wie Nativo für die Behandlung von Soja, Baumwolle, Reis, Zitrus- undanderenFrüchten, Crop Star für Maissamen und Evidence für Zuckerrohr. BMS produziert Ausgangsstoffe für den Kunststoff Polyurethan
(PUR) sowie Lackrohstoffe, die von der boomenden Möbel-, Auto und Bauindustrie nachgefragt werden.
„Etwa 850 der rund 2.000 Menschen
im Industriepark arbeiten bei
Bayer, die übrigen bei unmittelbaren
Dienstleistern oder anderen Betrieben“,
erklärt Standortleiter Flavio Abreu.
Dazu zählen Logistikunternehmen,
Verpackungsfirmen oder der Industriegasehersteller
Air Liquide. Keine
Frage, der Industriepark ist ein
attraktiver Standort.
Abreu ist sehr stolz auf seine Mannschaft,
in der jeder Dritte einen Universitätsabschluss
besitzt. Zum Beispiel
Luiz Muiño Negreira, der neben
seiner Arbeit ein Geografiestudium
abschloss. Heute überwacht der 35-
Jährige die Produktion des PUR-Ausgangsstoffs
MDI. „Als ich hier anfing,
hatte ich nur den Volksschulabschluss.
Ich war 15, und ein Onkel hatte mir zu
einer Bewerbung bei Bayer geraten“,
sagt Negreira. Er hatte Glück und gehörte
zu den 25 Jugendlichen, die unter
200 Bewerbern ausgewählt wurden.
„Wir lernten alles von der Pike
auf“, erinnert sich der Techniker. Und
auch nach 20 Jahren lerne er immer
noch dazu. Dass Mitarbeiter Bayer
jahrzehntelang die Treue halten, hat
auch mit dessen Weiterbildungsangebot
zu tun. Das Unternehmen engagiert
sich stark in diesem Bereich. Einer,
der davon profitiert hat, istMarcelo
Vilardo. Er arbeitet seit 25 Jahren
im Unternehmen. Begonnen hatte seine
Karriere als Lehrling, jetzt ist er Ingenieur
und führt die Aufsicht in der
Produktion von Polyetherpolyolen,
einemweiteren PUR-Ausgangsstoff.
Das Unternehmen kümmert sich
aber nicht nur um seine Mitarbeiter,
sondern auch um die Menschen in der
Region. Und das auf vielfältige Weise.
Die Landkarte der Kommune, die im
Büro von Arturo Rodriguez hängt, ist
übersät mit roten Stecknadeln. „Jede
Nadel kennzeichnet einen Ort der Hilfe
für Kinder und Jugendliche“, sagt
Rodriguez, der die örtlichen Bayer-
Projekte zur gesellschaftlichen Verantwortung
(Corporate Social Responsibility)
leitet. Sie stehen zum Beispiel
für Kinderhorte, in denen jeden Tag
2.400 warme Mahlzeiten ausgeteilt
werden. Oder für Austragungsorte der
„Olympiade Bayer Belford Roxo“, die
einmal im Jahr Kinder, Jugendliche
und Behinderte sechs Wochen lang zu
sportlichen Wettkämpfen zusammenbringt.
2007 erreichte sie rund 7.000
Kinder.
Eine andere Nadel auf der Karte
steht für die Bayer-Fußballschule, die
mehr als 250 Jugendlichen eine Zukunftschance
bietet. 53 der roten Nadeln
zeigen jene Schulen, die regelmäßig
Ausflüge zum Waldlehrpfad des
Unternehmens machen. Dort lernen
die Schüler dann zum Beispiel, was
man mit Kreativität aus Abfall noch alles
herstellen kann.
Am 23. Juni feiert Bayer offiziell den
50. Geburtstag seines Werks in Belford
Roxo. Werksleiter Flavio Abreu
sieht dem Festakt mit Stolz entgegen.
„2007 hatten wir einige Produktionsrekorde,
und Bayer CropScience betreibt
hier inzwischen seinen zweitgrößten
Formulierbetriebweltweit.“ In
Zukunft werde man weiter in den Ausbau
der Anlagen investieren. Bayer
profitiere in Belford Roxo auch ganz
konkret vom Engagement des Bundesstaates.
Rio de Janeiro wird in den
nächsten drei Jahren über 50 MilliardenUS-
Dollar investieren, unter anderem
in die Verkehrsinfrastruktur, aber
auch in Stahlwerke und in die Petrochemie.
„Wir werden manche unserer
Rohstoffe dann direkt aus der Region
beziehen können“‚ freut sich Abreu.
Der Standortleiter wünscht sich,
dass Brasilien, und insbesondere der
Großraum Rio de Janeiro, künftig
nicht mehr nur mit Samba, Karneval
und Zuckerhut assoziiert werden, sondern
darüber hinaus mit einer modernen
Industrielandschaft. Ganz im
Sinne des einstigen Staatspräsidenten
Juscelino Kubitschek. Carl Goerdeler